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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein
Autoren: Clemens Meyer
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weniger als jeder andere, der sich durch irgendeinen Markt bewegt. Nicht mehr oder weniger als der Bürgermeister selbst. Der Oberbulle will ihn herausfordern bei der nächsten Wahl, hört man. Wie soll der die Stadt regieren, wenn er nichtmal die Straßen kontrolliert.
    Ich blicke auf die wenigen Lichter im Zentrum der Stadt. Die meisten meiner Mädels schlafen jetzt.
    »Mein« ist auch das falsche Wort. Ich habe das immer pragmatisch gesehen, rein geschäftlich. Für das Geld, was ihr mir zahlt, seid ihr unabhängig, sicher, gut gemanagt, gut vermittelt, gut repräsentiert. Unabhängig. Management und Manege, ist das ein Wortstamm? Nein, sicher nicht. Drüben, bei den Gewerbegebieten, wo der Nachthimmel bläulich schimmert, sind das die nächtlichen Raffinerien?, diese Fabriken, groß wie kleine Städte und immer erleuchtet und immer in Rauch und Flammen, nein, die sind weiter weg, früher arbeiteten dort Tausende, auch einige meiner Freunde, Bekannte, um die dreißig Jahre her, jetzt natürlich kaum noch Flammen und Rauch und Gifte in der Luft, aber ein modernes Gleißen und Leuchten, dass einem die Augen weh tun, wenn man in der Nacht an diesen stählernen gläsernen Anlagen vorbeikommt, ich bin früher viel allein durch die Nacht gefahren, wenn ich nachdenken musste. Was zieht mich nur zu ihr? Dort drüben, in der Nähe des Gewerbegebietes, wo ich mal ein Büro hatte und Container und Maschinen meiner Baufirma standen, wo ich damals saß und lernte in den Nächten, an den Abenden, BWL, dort drüben machen drei Objekte Nachtschicht, für die Ruhelosen, die Wanderer, die Notgeilen, die Alkoholgeilen, an denen sie sich einen Muskelkater wichsen werden, eine Maulsperre blasen, die feinen Herren, die eben nochmal raus wollen. Die Preisdrücker. Die Perversen. Die Stammgäste, die Einsamen, die Zärtlichkeit Suchenden. Die Hardcore-Ficker. Die Streichler. Die Ungehobelten. Die Schmeichler. Die Irren. Mein Handy ist immer an, und meine Leute sind zuerst und immer erreichbar, aber die Nächte sind ruhig. Die Kanacken sind weg. Was kommt? Ob meine Leute wissen, dass ich hier bin? Übermorgen wird sie wieder arbeiten. Nicht eine Sekunde denke ich, dass sie ein Mann ist. War. Es ist ihre Seele und fast ihr ganzer Körper, der Weib ist. Auch ohne Pussy, auch ohne Fotze. Ich dringe in sie ein. Es muss ein Ende finden. Bevor ich mich ganz verliere. In ihr. Was sagte der Graf einmal, oder war ich das, als ich aus Tokio zurückkam, damals? »Wir müssen diesen ganzen Mythos vollkommen neu erfinden.«
    Janine – heißer Betthase! Hallöchen, hast du Lust, dem Alltag zu entfliehen? Suchst du den Kick in Sachen Sex? Hast du unerfüllte Wünsche, oder träumst du von was? Dann bin ich die Richtige. Ganz diskret, privat und ohne jeglichen Zeitdruck möchte ich deine Geliebte auf Zeit sein …
    Da drüben, wo auf den Autobahnen und Schnellstraßen nur vereinzelte gelbe Punkte sich bewegen, sitzt die fleißige Janine, bis zwei Uhr morgens. Wir haben nichts neu erfunden. Wir sind alle zu arm. Nicht was das Geld betrifft.
    Mein Gott, wie jung du wirkst, du siehst wirklich nicht aus wie dreißig. Deine dunklen Haare, dein schmales Gesicht, deine Brüste, o.k., da hast du natürlich den Vorteil, dass die erst seit knapp zehn Jahren da sind. Ein kleiner Scherz nach Mitternacht. Um mir selbst zu zeigen, wie kühl ich bin, immer noch sein kann. Dort hinten, etwas weiter nach rechts, der Mond ist nicht sehr voll über der dunklen Stadt, dort sitzt du in meiner Wohnung, meinem Objekt, und arbeitest. Zahlst deine Tagesmiete wie alle anderen. Hi, mein Name ist Bella, ich bin eine junge Transsexuelle mit einem femininen und sehr schlanken Body. Süßes Schneewittchen mit einem kleinen Geheimnis. Sei mein Liebhaber, und ich gebe mich dir hin.
    In welcher Jahreszeit befinden wir uns überhaupt? Manchmal glaube ich, einfach so zu verschwinden, mich aufzulösen. Aber nein, das könnte dir so passen! Sitzt drüben im Norden der Stadt, nicht weit von hier, hinterm Zentralbahnhof, sitzt dort hinter deinen Spiegeln und wartest, dass ich verschwinde. Es kann nur einen geben. Aber so war es nie. Und waren wir nicht Freunde? Geschäftspartner? Genossen? Kollegen?
    »Man kann einen Kampf nur gewinnen, indem man ihn vermeidet.« Solch einen Unsinn habe ich nie gesagt. Natürlich stimmt das hin und wieder. Aber ich habe es viele Jahre mit dem großen Machiavelli gehalten. Könnte mit dem alten Grafen drüber diskutieren. Und höre dich hinter den Spiegeln
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