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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein
Autoren: Clemens Meyer
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klirrend lachen. Was sind wir heute wieder kulturvoll, nicht wahr?
    »Wir haben gehört, du hast den Verräter S. getroffen?«
    »Wie kann das sein, wo er doch tot ist.«
    Kein Champagner mehr da, und ich nehme ein 5-cl-Fläschchen Cognac aus der Minibar. Ich werde auf die Outsiders trinken, die sich auflösen werden, weil die Konkurrenz schießt und die Bullen härter werden, die Los Locos sind in der Nachbarstadt und blicken zu uns rüber. Lebt wohl, Outsiders, die hier und dort hinter mir standen und gleichzeitig den Engeln nahestanden. Ach, Machiavelli. Ein blutverschmiertes Auto in der Nähe der Schienen. Das Handy summt mal wieder. SMS. Das Licht des Kühlschranks blendet mich. Man sollte den Cognac nie in die Minibar stellen. Obwohl uns so etwas früher scheißegal war. Ich gieße den Stoff, VSOP, Vronie schluckt ohne Pause (Wer hat mal diesen Scheiß erzählt? Hans?), Very Superior Old and Pale, in den kleinen Schwenker, wärme das bauchige Glas von unten mit meinem Feuerzeug. Buchstaben und Worte auf dem Display. Objekt 11 macht Feierabend. Evelyn – ein aufgewecktes Lustluder. Ich höre dich atmen hinter mir. Ruhig jetzt, ruhig. Als würdest du meine Bewegungen im Zimmer und auf der Bettkante spüren. Und als würde das deine Träume woanders hinführen. Was weiß ich denn schon von dir. Obwohl du erzählst und erzählt hast. Und ich auch. Man schweigt Jahre und Jahrzehnte. Ich wärme den kleinen Schwenker mit meinem Feuerzeug, bis mir fast das Glas aus der Hand fällt, so heiß ist es geworden. Ich stelle es auf den Nachttisch. Dort kühlt es eine Weile. Ich rieche den Cognac. Wenn alles so einfach wäre, wie einen guten Cognac zu erwärmen. Zwei-, dreimal habe ich mit meiner Frau Urlaub in Frankreich gemacht. In Biarritz. Ich will jetzt nicht zählen. … manche Fürsten haben die Herrschaft verloren, sobald sie ein Genießerdasein dem Kriegshandwerk vorzogen … Zu den anderen Übeln, die die Abneigung gegen den Krieg mit sich führt, gehört das, dass sie Verachtung erregt: und sie ist etwas, wovor sich der Fürst am allermeisten hüten muss …
    Das Dröhnen eines letzten späten oder frühen Flugzeugs dringt bis zu uns. Fast scheint es mir, die Scheibe würde vibrieren. Das Werk, das wir in unseren gemeinsamen Tagen hörten, dort im Kubus der Musik, war es nicht sein unvollendetes? Seine Unvollendete? Zumindest las ich das im Programmheft. Ich bin kein Kenner seiner Werke, wie sie dachte. Oder wie ich glaubte, dass sie denkt. Es war nur dieses Festival, ein paar Leute haben es mir empfohlen. Hatten Karten. Internationale Orchester, weltberühmte Dirigenten, und dieser alte, seit fast hundert Jahren tote Komponist. Zu viel Bedeutung in allen Dingen. Disney World. Da träume ich wohl schon. Was für eine ergreifende Musik. Ich will mich zu dir legen. Liege ich schon? Was macht diese lange Feder auf dem Nachttisch? Hat sie die mitgebracht? Ich ziehe die Feder über die Knochenkette ihrer Wirbelsäule, hoch zu ihrem Hals, den Haaransatz, kurze schwarze Haare, Pagenkopf. Unschuld, Verlorenheit, tiefe einstige Verletzungen …, oder wie immer man das nennen will. Vielleicht ist es das. Was ich in ihren Augen, ihrem Gesicht … sehe. Ich ziehe die Feder, die mir immer größer und breiter erscheint im Halbdunkel des Zimmers, über ihren Rücken, über ihren Arsch. Ich habe ihr ein Buch geschenkt, eine alte, seltene Ausgabe. Schöne Illustrationen, alte Kupferstiche. Bin selbst in das Antiquariat neben der großen Stadtkirche gegangen, in dem ich noch nie zuvor gewesen bin. Ein Kinderbuch, weil sie mir davon erzählte, wie sie so sein wollte wie das kleine Mädchen im Buch. Nein, nicht Schneewittchen, verdammt nochmal!
    Wenn wir schlafen: Hier kriegt das Krähenvieh mich nicht!, dachte sie. Es ist viel zu groß, als dass es sich zwischen den Bäumen hindurchzwängen kann. Aber es sollte lieber nicht so heftig mit den Flügeln schlagen, es verursacht ja einen Sturm im Wald. Ich werfe die Feder ins Dunkel, klirrend schlägt sie auf den Boden.
    Irgendwann wacht er auf, und die Tür des Zimmers ist offen. Er spürt das sofort. Bevor er es sieht. Der Flur draußen im Dämmerlicht. Er kann die Ziffern auf seiner Uhr nicht erkennen. Er lauscht, aber alles ist still. Er sieht das Handy auf dem Nachttisch blinken. Kein Speicherplatz für neue Mitteilungen.
    Nein, sie ist noch da. Sie liegt auf dem Rücken, und er sieht ihre offenen Augen. Sie starrt an die Decke, es scheint so. Er will aufstehen und zur Tür
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