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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein
Autoren: Clemens Meyer
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das haben die anderen nie verstanden, dass ich auf die Frauen und Männer in den alten Schinken so stand. Aber die haben mich eh nicht verstanden. Dass ich so war, wie ich war. Die Hölle eigentlich, wenn ich so zurückdenke. Vielleicht liebe ich ihn deswegen. Liebe ich? Ich weiß es nicht. So wie diese schlanken dunkelhaarigen, fast schwarzhaarigen, dunkeläugigen Mädchen wollte ich sein, und die schönen Männer wie Rock Hudson und James Dean und Marlon Brando habe ich bewundert und mich in sie verliebt, wie diese …, mein Vater ist Maler gewesen, Anstreicher, hat ganz unten angefangen, wie er immer gerne und wieder und wieder erzählte, hat sich in Duisburg und dann in Bochum auf den Baustellen abgearbeitet und mit Mitte vierzig seine eigene Firma aufgemacht. Warum bist du nicht unter die Erde gegangen, Vater? So wie die anderen.
    Das Herz, Junge, mein Herz, Mädchen. Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt. Vater hat Tabletten genommen, bis zum Ende. Er war immer ein alter Vater gewesen. Was hat dein Vater gemacht, frage ich ihn . Als wir nach dem Konzert wieder in unserem Zimmer liegen, ganz oben in dem rechteckigen Turm, wieder Champagner trinken, als würde es nichts anderes geben auf der Welt, und die Vielfalt der erlesenen Getränke verwirrt uns, nur einige Transportmaschinen nachts am Himmel. Gelb wie die Post sind die, das habe ich schon oft gesehen, wenn sie neben der Autobahn starteten und landeten. Kräftig. Entschieden. Er sagt mir, dass er selten klassische Musik hört, aber ein Freund ihm diesen Komponisten empfohlen hat. Obwohl der eigentlich kein richtiger Freund sei. Wir haben den Bürgermeister gesehen. Mit seiner Frau. Wir gingen direkt an ihm vorbei. Ich kenne ihn aus der Zeitung. Und er nickte uns, ihm zu. Höflich, den Oberkörper leicht beugend dabei, und er, mein Vermieter der Nacht, nickte zurück, »Guten Abend, guten Abend«, nein, schweigend, Vermittler der Macht, die Frau lächelte kurz, eine mittelalte Blonde in einem weißen Kleid, angemessen ihrer Würde, ihrem mittleren Alter, »Ich habe Immobilien in der ganzen Stadt«, sagst du plötzlich, während du meine Brüste streichelst, »mehr noch. Ich, dann eine ganze Weile nichts. Ein Kinderbuch, das wirst du nicht kennen, aus der Zone, habe ich damals meinem Sohn geschenkt, auch wenn die Zone da schon vorbei war …« Du lachst. »Lustig im Tempo und keck im Ausdruck.« So las ich es im Programmheft. Tatsächlich einmal eine muntere lustige Stelle. Weit gegen Ende. Diese Festspiele. Zwei Konzerte haben wir nun besucht. Oh Mensch. Oh Mensch. Das hat mich ergriffen. Wie plötzlich dieser Gesang einsetzte, womit ich nicht gerechnet hatte. Die Augen geschlossen. Ich schlief, ich schlief. Tief im Vergangenen. Der Vater auf der Leiter, die weiße Malerhose. Auch als er längst seine eigene kleine Firma hatte, arbeitete er, konnte es nicht lassen. Oh Mensch. Gib Acht.
    Immer wieder das Kino, aus dem ich komme, im Sommer, dass ich ein Mädchen war, das erste Mal, ganz und gar und doch nicht. Das Lachen. Und wie ich laufe. Die Türme der Zechen am Horizont. Wollte ich hinunterspringen? Nein, sicher nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das wollte. Aber wenn es einen so ausfüllt von innen, dass man brechen könnte, kotzen könnte, weil es einem schon bitter in den Mund dringt, man klammert sich an Einzelheiten, die noch niemand wissen kann, das Finale im Dröhnen der Trommeln, aber ich denke immer noch an dieses klagende O Mensch , war es nicht Herbert Grönemeyer, der Ähnliches sang vor einigen Jahren, ja, der Tod hat doch damals sein Leben …, Bochum, meine Kindheit, wie ich fortging, wie ich immer wieder bei den Ärzten saß, körperlich, geistig, die Arbeit, manchmal Frieden, wie ich lange überlegte, auch noch den Schwanz verschwinden zu lassen, mein neuer Name im Pass und auf dem Ausweis, das Transsexuellengesetz ( um auch den Geschlechtseintrag anzupassen, musste die Person bis 2011 zusätzlich: dauernd fortpflanzungsunfähig sein ), und wie ich heute noch überlege, mich zu öffnen, weiter noch und ohne Schwanz, endgültig, und wie es mich anfangs wunderte, dass er nicht einmal sagte, dass ich doch aufhören soll in seiner Immobilie und überhaupt zu arbeiten, nicht ein Mal, und wie er begann, mit mir Champagner zu trinken und zu vögeln und zu reden und auszugehen, als wäre alles andere weit weg und ganz egal. Das Verklingen der Stimmen in diesem Konzerthaus, dem Würfel gegenüber der Oper, die Leuchtschilder der
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