Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)

Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Tursten
Vom Netzwerk:
es fast schon wieder so war wie früher. Freunde durch dick und dünn, die immer füreinander da waren und sich in Krisen beistanden. So war es in den letzten Jahren nicht gewesen.
    Hinter der Tür erwartete sie ein Berg von Briefen und Zeitungen. Irene schob ihn mit dem Fuß beiseite. Sie hatte nicht die Kraft, sich hinabzubeugen und ihn aufzuheben. In der Wohnung roch es muffig nach Staub und vertrockneten Topfpflanzen, aber auch nach ihrer Familie. Sie spürte einen Kloß in ihrem Hals. Endlich war sie wieder zu Hause.
    Ein Blick in den Badezimmerspiegel ließ sie er schrecken. Auf der einen Wange klebte ein großes weißes Pflaster, auf der Stirn ein etwas kleineres. Dr. Enkvist hatte gesagt, dass sie nicht hatte genäht werden müssen, dass sie aber recht aufwändig verpflastert sei. Ein weiteres Pflaster bedeckte ihre linke Handfläche und den linken Knöchel. Arme, Beine und Rücken waren von roten Flecken übersät, die sich bereits blaulila verfärbten. Wenn Krister und die Mädchen nach Hause kamen, würde sie ihnen einen bunten Anblick bieten! Bei dem Gedanken an ihre Familie kamen ihr wieder die Tränen. Energisch wischte sie sie weg und sagte laut zu ihrem Spiegelbild:
    »Reiß dich zusammen!«
    Anschließend ließ sie ihre schmutzigen Kleider auf den Boden fallen und stellte sich unter die heiße Dusche.
    Sie saßen am Küchentisch, tranken Tee und aßen Käse- und Schinkenbrote. Irene hatte den Hausanzug aus dünnem Velours angezogen, den ihr ihre Töchter zu Weihnachten geschenkt hatten.
    »Erzähl, was passiert ist«, sagte Irene und sah Tommy über den Rand ihrer Teetasse hinweg neugierig an.
    »Was bis zum Knall passiert ist, weißt du ja … Woher wusstest du eigentlich, dass es eine Explosion geben würde?«
    Tommy sah sie an, und Irene meinte ein misstrauisches Funkeln in seinen Augen zu bemerken. Glaubte er etwa, dass sie die Bombe in den Kasten gelegt hatte? Dann sah sie jedoch ein, dass er in der Tat eine höchst berechtigte Frage gestellt hatte.
    »Ich sah plötzlich Fendi Göks auf einem Moped auftauchen und sich hinter einer Ecke verstecken. Er machte mit seinem Handy ein Foto des Pravda. Noch ehe ich etwas sagen konnte, sah ich den kleinen Jungen auf dem Fahrrad. Im Kopfhörer hörte ich Andy Mara sagen, dass der Deckel klemmte … Und plötzlich ging mir auf, was Kazan damit gemeint hatte, dass es am Fünfundzwanzigsten knallen würde. Genau wie er gesagt hatte: eine Bombe. Und der Junge auf dem Fahrrad war genau in ihre Richtung unterwegs. Alles ging so schnell, als mir das klar wurde … mir blieb keine Zeit …«
    Irene verstummte, als sie sich daran erinnerte, wie sie aus dem Baucontainer gestürzt war und sich über den nichts Böses ahnenden Jungen geworfen hatte.
    »Ich verstehe. Es war ein verdammtes Glück, dass du ihn erwischt hast. Die Explosion war gewaltig. Alle im Haus kamen ums Leben. Einer der Fahrer auch. Ein Schloss flog ihm durch das geöffnete Seitenfenster an den Kopf.«
    »Das muss der Fahrer der Gangster Lions gewesen sein. Ihr Auto stand direkt vor der Tür des Pravda.«
    »Schon möglich. Wir haben noch nicht mit der Identifizierung der Opfer begonnen. Neun Tote. Das dauert.«
    »Wie ist es dem anderen Fahrer ergangen? Dem jungen Typen?«
    »Schwere Kopfverletzung. Unklar, ob er durchkommt.«
    Irene starrte nachdenklich in ihre leere Teetasse. Langsam sagte sie:
    »Glaubst du, dass die Banden zur Tagesordnung übergehen werden?«
    »Wohl kaum. Sowohl der Gothia MC als auch die Gangster Lions sind die Führungsebene losgeworden. Diese Art von Gangs überlebt nicht ohne ihre Bosse.«
    Irene schluckte einige Male und stellte dann die Frage, die ihr am wichtigsten war:
    »Das heißt, Krister und ich müssen uns nicht mehr bedroht fühlen?«
    Tommy sah sie lange nachdenklich an und antwortete dann:
    »Ich glaube es wagen zu dürfen, diese Frage mit Nein zu beantworten. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Banden zerfallen und sich ihre Mitglieder anderen Gruppierungen anschließen.«
    »Gott sei Dank!«
    Irene war so erleichtert, dass es ihr fast schwindlig wurde.
    »Hast du mit Krister und den Mädchen telefoniert?«, fragte Tommy.
    »Ich habe versucht, sie anzurufen, und eine SMS geschickt. Aber Krister meinte ja, dass man ihn vor morgen Abend nicht erreichen könne. Ich muss mich also gedulden.«
    »Weißt du wirklich nicht, wo sie sind?«
    »Keinen Schimmer!«, sagte Irene. Sie lächelte so glücklich, dass ihre verpflasterte Wange spannte.

Z wei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher