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Im schoenen Monat Mai

Im schoenen Monat Mai

Titel: Im schoenen Monat Mai
Autoren: Emile de Turckheim
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Gesicht herauskommt, dann sieht man ihre Seele. Der Wachtmeister hat eine seltsame Seele. In dem Jahr, in dem er Lucette seiner Amme Adèle überlassen hat, war ich ein kleines Baby, ganz neu geboren, und alle haben sich um mich gekümmert, weil Kinder erst geschlagen werden, wenn sie vier oder fünf sind, Babys sind irgendwie heilig oder schwach, was weiß ich. Lucette war auf jeden Fall im richtigen Alter, sie hat Schläge auf den Rücken, den Bauch, die Nase und alle anderen Knochen abgekriegt, genug für vier Leben, hat sie gesagt. Und warum vier Leben? Sie hat sich gedacht, dass es noch andere geben muss, weil so traurig kann es einfach nicht sein, jeder sollte doch früher oder später auch sein Teil Freude abkriegen, sie hat eher an später gedacht, weil das Leben, das sie geführt hat, immer nur zum Heulen war. Ich bin nie geschlagen worden, weil Lucette war sanft wie ein Lamm und Monsieur Louis hat ja schon Martial gehabt. Man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, sagt Lucette, deswegen sage ich das, es soll nämlich nicht so klingen, wie wenn ich mich beschweren will: Ich war kein geschlagenes Kind, ich bin nie verprügelt worden, außer das eine Mal, wo Monsieur Louis den Wutanfall bekommen hat, weil ich das Kristallding zerbrochen habe, das er Lucette geschenkt hat, da hat er gesagt, du bist täppischer als ein Esel! und hat mich auf den Kopf gehaut. Euch kann ich es ja jetzt sagen: Ich bin überhaupt nicht täppisch, ich habe es absichtlich gemacht. Wirklich täppisch zum Beispiel sind Leute wie Herr Truchon, der Monsieur Louis in die Seite geschossen hat. Erst muss ich euch aber erklären, wieso Herr Truchon mit dem Jagdgewehr überhaupt da war. Lucette war so unglücklich im Blauen Engel, dass sie versucht hat, sich an die ganze Liebe, die sie bekommen hat, zu erinnern. Von ihrer Mutter hat sie nie was mitgekriegt, das Einzige, was über Mathilde gesagt worden ist, war galoppierende Schwindsucht. Nicht einmal ein Foto oder eine Lüge zum Träumen hat es gegeben. Den Wachtmeister erwähne ich lieber nicht, der hat Lucette verlassen, und Lucette sagt, wenn man an Sünden und an Vergebung glaubt, dann ist das genau die Art Sünde, die nie vergeben werden darf, sonst muss man ja verzweifeln. Lucette war manchmal ein bisschen verzweifelt und hat dann gesagt, er hat mich nur verlassen, weil seine Eltern ihn schon als Kind verlassen haben. Das ist so eine Theorie von ihr, die ich nicht mag, weil wenn jeder sein Unglück nutzt, damit er andere unglücklich macht, dann sind wir am Ende alle unglücklich, wie wir da sind. Da kann man sich noch so das Hirn zermartern, bei dem Polizistenvater findet man nicht sehr viel Liebe. Und dann sind da noch die Truchons, zu denen sie mit dreizehn gekommen ist, da war ich noch so klein, dass ich noch gar nicht auf der Welt war, aber kurz davor. Lucette hat so lange darüber nachgedacht, bis sich die Wahrheit verändert hat und sie gesagt hat, ja, sie waren streng, aber sie haben sich immerhin fünf Jahre um mich gekümmert, sie haben mir einfach so was zu essen gegeben, meine Sachen gewaschen und mich in einem Bett schlafen lassen. Einfach so stimmt aber nicht ganz, weil, wie Lucette mir erzählt hat, der Wachtmeister den Truchons fünfzigtausend Francs gegeben hat, damit sie Lucette aufnehmen zu all den anderen Kindern, die sie schon gehabt und geschlagen haben. Aber wie ich schon gesagt habe, hat es Lucette so traurig gemacht, in der Halle vom Blauen Engel in einem zu kleinen Kleid auf einem Hocker zu sitzen und zu warten, bis einer von den Herren dem Sacha Milou Geld dafür gibt, dass sie ihren Hintern herzeigt und andere Liebesdinge mit ihm macht außer dem, was sie nicht machen will, dass Lucette überall in ihrer Vergangenheit nach Liebe gesucht hat und geglaubt hat, sie hat sie bei den Truchons gefunden. Man könnte ihnen vielleicht einen Brief schreiben und sie zur Jagd einladen, hat Lucette zu Monsieur Louis gesagt. Da war sie schon vor vielen Jahren weggelaufen und hat im Blauen Engel ihr Geld verdient. Wenn es dir eine Freude macht, Pipette, dann lade deine Truchons doch ein, mir ist das gleich, hat Monsieur Louis drauf gesagt. Sie haben die Einladung auch angenommen, aber nicht, um Lucette wiederzusehen, sondern weil sie in der Gesellschaft aufsteigen wollten und weil Freunde mit einem wildreichen Grundstück beim Aufstieg eine Hilfe sind. Durch einen Riesenzufall oder nein, eigentlich nicht, weil dumme und brutale Menschen sich ja meistens gut verstehen,
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