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Im Schatten des Elefanten

Im Schatten des Elefanten

Titel: Im Schatten des Elefanten
Autoren: Elio Vittorini
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keine jämmerlichen Gerippe am Rand ihrer Straßen.« Hier spricht der Großvater wieder. Was? Was? »Sie haben nicht gern«, erklärt ihm meine Mutter, »Tote auf den Straßen herumliegen.«
    »Du mußt sagen«, verbesserte sie der Gatte, »sie wollen beim Sterben keine Hilfe. Lieben es, im Verborgenen zu sterben, – es sei denn, im Angesicht anderer Toter.«
    »Und sie haben deshalb«, fährt meine Mutter fort, »geheime Plätze, wo sie sich hinbegeben, bevor es zu spät ist. Um, solange es noch Zeit ist, aus den Augen der Lebenden zu entschwinden und, dort hingelagert, zu warten, bis sie zu Toten geworden sind.«
    Hier ist der Moment, da Großvater zum letzen Male spricht. Er fragt, wie es möglich sei, daß sie sich als Tote hinlegen, ehe sie tot sind.
    »Er hat es gesagt«, antwortet ihm meine Mutter. »Ich wiederhole dir, was er gesagt hat.« Da senkt der Großvater wieder die Stirn.
    »Es ist das Merkwürdige an ihnen«, sagt der Mann meiner Mutter zu ihm.
    Aber er hat sich zu dicht an ihn herangemacht, und Großvater wendet verächtlich sein Haupt ab.

    29

    Plötzlich ist es eines Tages nicht nur hart, Brot zu essen, das man im Wasser einer kleinen Quelle eingeweicht hat. Es wird zu einer ewigen Qual, und man ist ewig geplagt.
    Kauen und Hinunterwürgen erzeugt außerdem ein sonderbares Gefühl von Übelkeit. In den vielen Stunden, da man nichts kaut, schwindelt einem der Kopf. Man empfindet innere Leere, und der Geschmack von dem, was Brot gewesen ist oder bei der nächsten Mahlzeit sein wird, kommt hoch und packt uns und schaukelt uns bei dieser Leere hin und her. Wie können wir dann bei der Mahlzeit einen solchen Geschmack aufnehmen? Meine Schwester bricht in Tränen aus.
    »Du! Du!« sagt meine Mutter zu ihr. Sie äf ihr nach, wie sie heult und wie sie schluchzt. »Schäme dich!« sagt sie zu ihr.
    Anna steht auf. »Nunmehr sind wir an dem Punkte, wo ein Entschluß gefaßt werden muß.«
    Sie und Elvira sprechen beide von unseren Kleinen. »Wir sind an dem Punkte, wo ein Mädchen anfängt, die Hure zu machen.«
    Hier würde der Mann meiner Mutter gut tun zu sagen: »Übertreiben wir nicht.«
    Da ist er und fährt sich ins Gesicht, knetet sich die Wangen. Doch er tut keinen Mucks, und das scheußliche Wort hält sich in unserer Mitte.
    »Oh!« seufzt meine Schwester. »Dazu, also, wollt ihr mich bringen?«
    Es sagt ja keiner, so wird ihr gesagt, daß sie es tun soll.
    »Wen meint ihr denn?« seufzt meine Schwester. Sagt, daß Elvira und Anna gewiß nicht sich selber meinen. Sie haben ihre Männer, die sie nicht gewähren ließen. Also ist sie es, die gemeint ist. Aber unsere Mutter tritt vor.
    »Wenn hier irgend jemand die Hure zu machen hat«, sagt sie, »komme ich zuerst an die Reihe.« »He?« sagt ihr Gatte.
    Auch er tritt vor, – doch nicht um sich die Wangen zu kneten. Sondern um etwas vorzubringen. Hat sie nicht, wie Anna und Elvira, – hat nicht auch sie einen Mann, der sie nicht gewähren lassen wird? Lange währt das Fragende seines Blickes, den er wandern läßt vom einen zum andern. Er fällt schließlich auf den Großvater, – alle betrachten wir seinen Rücken, seinen Nacken, – und da kommt das Steingepolter seiner Stimme.
    »Du willst wissen«, schreit ihn meine Mutter an, »was der Soundso da von den Elefanten gesagt hat?« Und der Mann meiner Mutter geht zu meiner Mutter hin. Beide fangen sie wieder an zu erzählen, – sie ist auf der einen Seite, er ist auf der anderen, – doch mein Bruder Euklid erscheint.
    Seit kurzem ist es schon dunkel abends, wenn er heimkommt. Noch ist das Licht nicht an in der Küche, und mein Bruder selbst macht es an. Hat ein Stück Zeitung in der Hand.
    »Denkt ihr noch an den kleinen Alten da?« sagt er zu uns.
    »Den Mann, der da vorige Woche bei uns gewesen
ist?«
»Der kleine alte Flötenmann?«
»Der kleine Elefantenmann?«
    Meine Mutter wendet sich von meinem Großvater, ihr Gatte kommt herbei.
    »Der«, sagt mein Bruder Euklid zu uns. »Was ist mit ihm?«
    Der Großvater beanstandet nicht, daß er mitten in der Erzählung verlassen worden ist. Abwartend kehrt er uns die Rückseite der Körpermasse, die er ist, und seine Ohren lauschen gespitzt auf das, was wir sagen.
    »Er ist tot«, sagt mein Bruder Euklid. Ist tot?
    Mein Bruder liest uns aus einem Zeitungswisch vor, daß der und der Mann am Morgen danach vor den Toren des Krankenhauses tot aufgefunden worden ist.
    »Am Morgen – nach was?«
    »Ei, nachdem er bei uns gewesen ist«, antwortet
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