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Im Schatten des Elefanten

Im Schatten des Elefanten

Titel: Im Schatten des Elefanten
Autoren: Elio Vittorini
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mein Bruder Euklid.
    »Und schreiben sie das«, sagt meine Mutter, »in der Zeitung?«
    »Das schreiben sie wohl nicht«, sagt mein Bruder Euklid. »Nur – ist die Zeitung von zwei Tagen danach, und es heißt – gestern morgen – .«
    Er erzählt uns, daß die Zeitung an einem Nagel in der Toilette des Ladens hing und daß er beim Hingucken zufällig die zweizeilige Notiz da entdeckt hat.
    »Aber nichts bestätigt uns, daß es sich etwa um ihn
handelt«, bemerkt meine Mutter.
»Nichts?« ruf mein Bruder aus.
    »Es heißt, daß er den und den Namen hat«, fährt meine Mutter fort, »aber wir wissen nicht, wie sein Name war.«
    »Wir wissen aber, daß sein Gesicht schwarz war von Ruß«, antwortet ihr mein Bruder Euklid. »Und die Zeitung schreibt, daß er tot aufgefunden worden ist mit einem Gesicht, das – so schreibt sie – rußschwarz war von seiner Arbeit.«
    »Siehst du?« stöhnt der Mann meiner Mutter. Er stöhnt meine Mutter an mit vorwurfsvoller Stimme, – derselben, mit der er damals bei seinem Weine gestöhnt hat.
    »Siehst du?« wiederholt er nach fünf, sechs Minuten. Und nach fünf, sechs weiteren: »Siehst du’s?« Keiner sagt ein Wort während der immerhin langen Minuten, die jedesmal bis zu seinem nächsten Aufstöhnen verstreichen.
    Einer geht dann zur Fenstertür, reißt sie sperrweit auf, und das Dunkel da draußen ist schon die Nacht, – der Bäume, der Büsche, die der Schall aus der unsichtbaren Stadt mit seinen Armen seitlich umfängt. Ein wenig Mond streicht mit grämlichem Schein über die Bäume hin, und der Halbkreis der Stadt ist gleichfalls Helligkeit, Widerschein, – ohne daß die Bäume etwa Lichter zum Vorschein kommen ließen. Ein rotes nur, an einer Stelle, – es flammt auf und erlischt. Wir wissen, es kommt von einer Signalscheibe an einer Weiche des Güterbahnhofs, – aber hier zwischen den Bäumen ist’s wie ein Leuchtfeuer der Menschen nach den Wäldern hin, – für jene Menschen, die sie durchstreifen.
    »Siehst du?« stöhnt wiederum der Mann meiner Mutter.
    Meine Mutter ist zum Großvater zurückgekehrt und hat wieder angefangen, ihm das zu erzählen, was er verlangt: wie er gestorben ist, der kleine Alte, der die Flöte blies; nicht, wie die Elefanten sterben, – diesmal.

    30

    Es kommen weitere Tage, es kommen weitere Nächte, und es kommt eine Nacht, aus der wir erwachen durch das Geräusch von jemandem, der in der Küche die Tür nach dem Wäldchen öffnet. Wir glauben, meine Mutter sei schon aufgestanden. Ist’s denn schon Tag?
    Aber meine Mutter fragt sich, wer heute wohl vor ihr aufgestanden sein mag. Erhebt sich, zieht über das Hemd ihren Militärmantel von den Alliierten und geht hinüber in die Küche.
    Die Tür ist sperrweit auf beim Scheiden der Dunkelheit, deren Fuß man noch gewahrt, wie er, den baumumstandenen Pfaden entgegenfliehend, glatt sich davonhebt aus dem Gras der Ebene.
    Meine Mutter macht Licht an. Was für eine Geschichte ist das? Sie tritt in die Tür, um zu rufen, – ruf auch, nicht laut, – Anna zuerst, dann Elvira. Dann ruf sie nicht mehr, doch lang ist ihr Schweigen und sonderbar dazu. Auch hat ihr gar niemand geantwortet.
    Wir gehen ‘runter nachsehen. Nun?
    Die Arme auf der Brust gekreuzt, die Hände unter den Achseln – steht meine Mutter, in ihrem Militärmantel von den Alliierten, auf der Schwelle. Blickt nach dem Wäldchen, dreht sich aber um. »Nur begreife ich halt nicht«, sagt sie zu uns, »wie er es fertiggebracht hat, alleine aufzustehen. Und sich alleine anzuziehen.«
    »Wer?« sagen wir.
    Und meine Mutter gibt es uns durch eine Bewegung mit dem Kinn zu verstehen.
    Unser Großvater ist’s, vom Frejus und Simplon, – der beim ersten Aufdämmern des Tages schon nahe den Pfaden wandelt, die im Hintergrund der Ebene zwischen den Bäumen sich aufun. Er hat sogar seinen Mantel, Schuhe und Strümpfe an, den Hut auf dem Kopf und, in der Hand, den Stock, auf den er sich stützt. Als ginge er, um Platz zu nehmen auf seinem Stuhl. Mit dem gleichen gemessenen Schritt, wenn auch in etwas strafferer Haltung. »He, Großvater!« so rufen wir ihn.
    Meine Mutter bringt uns zum Schweigen. »Laßt ihn machen!«
    Was denn machen?
    Meine Mutter spricht von dem Mann, der er gewesen ist, redet von all den Arbeiten, bei denen er dabeigewesen ist, wie er dabeigewesen ist, wie er dies heben, wie er jenes hochschleudern konnte, und sie sagt, daß er ein Elefant war. Bei Gott, – und ob er es war! Mit seiner Geschichte, die sie uns
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