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Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Titel: Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Autoren: Emma Temple
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dürfen, der aus unserer Mitte gerissen wurde. Der sein Leben gegeben hat, damit ich meines behalten darf – das größte Geschenk, das ein Mensch einem anderen geben kann.«
    Sie nickte und legte ihren Kopf an seine Schulter. »So machen wir das.«
    So blieben sie sitzen, bis es draußen wieder hell wurde und Charlotte aufwachte. Sie schlug ihre Augen auf und verlangte mit lautstarkem Geheul ein Frühstück – und brachte sie dadurch mit ihren Gedanken schnell in die Wirklichkeit zurück.
    Ihr Geheul wurde lauter, während Anne und Gregory eine tiefe Grube im weichen Waldboden aushoben. Offensichtlich spürte das Kind die Verwirrung und Trauer ihrer Mutter. Erst als Anne und Gregory schließlich David Wilcox’ Körper in eine Decke hüllten und ihn in die Grube gleiten ließen, verstummte sie. Anne bückte sich und nahm ihr Kind in den Arm. Es fühlte sich in den feuchten Kleidern so zerbrechlich wie ein Vogel an. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie Charlotte wieder auf den Boden setzte, von einem nahe gelegenen Busch eine lange grüne Ranke abbrach und sie in das Grab warf.
    »Ich werde dich nie vergessen«, sagte sie dabei – ohne sich darüber im Klaren zu sein, mit wem sie eigentlich sprach. »Du hast mich gerettet, als ich nicht mehr mit einer Rettung rechnen konnte. Es tut mir leid, dass ich dir nur meine Freundschaft und nicht meine Liebe schenken konnte.«
    Sie verharrte noch einen Augenblick, während Gregory neben sie trat. Dann griff sie entschlossen nach dem Spaten und fing an, das Grab zu schließen. Irgendwann legte Anne das Werkzeug aus der Hand. Sie brach von einem jungen Farnbaum ein paar große Blätter ab, legte sie auf den Grabhügel, strich ein letztes Mal über die Erde, nahm dann ihre Tochter auf den Arm, wandte sich um und ging zurück zu ihrem Haus.
    Gregory zögerte einen Augenblick, dann hinkte er schwerfällig hinter ihr her. Wenigstens hatte der Regen im Laufe des Vormittags nachgelassen. Aber der Wind war kälter geworden und blies ihm jetzt eisig ins Gesicht. Der Winter war endgültig gekommen.

MARLBOROUGH, 1833

    34.
    Es war tief in der Nacht. Gregory lag mit offenen Augen in der Dunkelheit und starrte an die Decke. Die Beerdigung lag inzwischen schon zwei Wochen zurück, und die Trauer, die über dem Haus lag, wollte nicht verschwinden. Es fühlte sich so an, als würde alles die Luft anhalten – und es war noch nicht klar, was eigentlich passieren würde, wenn das Leben wieder weitergehen musste. Anne wirkte abwesend, kümmerte sich zwar um ihre Tochter, stand aber zu oft am Fenster und starrte auf das Meer hinunter. Gregory spürte, dass sie allein sein wollte, und beschäftigte sich meistens draußen. Er sah nach den Schafen, sammelte die Eier der Hühner ein und widmete sich auch der kleinen Charlotte. Immer wieder versuchte er, sie für die Puppe zu begeistern, die David in seinem letzten Herbst für seine Tochter gebastelt hatte. Aber Charlotte warf sie jedes Mal auf den Boden und trampelte mit zornigem Geheul darauf herum.
    Während Gregory sich zunehmend Sorgen um den Zustand von Charlotte machte, zuckte Anne nur mit den Schultern. »Sie trauert eben auf ihre Weise.«
    Und jetzt lag er da, lauschte dem Pfeifen des Windes um die Hütte und versuchte sich vorzustellen, wie aus diesem Scherbenhaufen eine Zukunft entstehen sollte. Es gelang ihm nicht. Wie sollte er einschätzen, wann Anne genug getrauert hatte? Ihr klarmachen, dass er sie verstand – aber auch nicht für immer einfach übersehen werden wollte. Sicher, Trauer brauchte ihre Zeit. Aber wie viel?
    Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht hörte, wie sich die Tür zum Schlafzimmer leise öffnete und nackte Füße über den Holzboden an sein Bett huschten. Er schreckte erst auf, als sich seine Decke hob und eine Hand ihm in die Seite drückte.
    »Rutsch mal rüber«, wisperte Anne und glitt im nächsten Augenblick neben ihn. Sie trug nur ein Hemd, ihr Haar war offen und stand in einem gewaltigen schwarzen Kranz um ihren Kopf.
    Bereitwillig machte er ihr Platz. »Kannst du nicht schlafen?«, fragte er besorgt.
    »Ich will nicht schlafen«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich wollte zu dir. Nimm mich in den Arm.« Leiser fügte sie hinzu: »Bitte.«
    Vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie etwas unbeholfen an sich.
    Sie legte ihm eine kalte Hand auf die Brust und verharrte für einen Augenblick. »Danke für deine Geduld«, flüsterte sie. Dann streichelte sie ihn vorsichtig und
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