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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes
Autoren: Gina Mayer
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gewünscht hatte?
    Ich sah uns in einem großen Seminarraum sitzen, Seite an Seite an einem Pult. Nachts schliefen wir im gleichen Schlafsaal. Die Schulferien würden wir zu Hause bei den Cordes verbringen. Wir würden versuchen, sie, so gut es ging, über den Verlust der beiden Brüder hinwegzutrösten. Wir würden im Haushalt mithelfen und die Sonntagsschule halten. Eva würde die größeren Mädchen unterrichten und ich die Lämmer, wie wir die Kleinen in der Kohlstraße immer genannt hatten. Ich würde mit ihnen basteln, nähen, beten und singen.
     
    Da draußen bei den Heiden brennt die Sonne so heiß,
    da lebt manch ein Kindlein, das von Jesus nicht weiß,
    kann nicht beten, wenn morgens vom Schlaf es erwacht,
    weiß nicht, dass ein Englein sein Bettlein bewacht.
     
    Ich bin einmal dort gewesen, würde ich zuerst den Lämmern und später meinen Schulkindern erklären. In Afrika, bei den Heiden.
    Ich würde versuchen, ihnen von Südwest zu erzählen, aber es würde mir nicht gelingen, weil es sich nicht in Worte fassen ließ. Die roten Felsen und die flimmernde Hitze in der Wüste. Die Ochsenkarren, die Mattenhütten, die Nama und Buschmänner und Herero. Der rote Himmel am Morgen, der blaue Himmel am Mittag und der schwarze Himmel in der Nacht mit seinen Tausenden und Abertausenden von Sternen.
    Das Licht. Wie sollte ich einem Kind aus Deutschland das Licht in Afrika beschreiben? Es würde mich genauso wenig verstehen wie ein Nama-Junge, dem ich das Grün der Kohlstraße zu beschreiben versuchte. Es gibt so viele Dinge in Südwest, die ich selbst noch nicht gesehen habe, würde ich zu den Lämmern sagen. So viele Dinge, die ich noch entdecken wollte.
    »Warum bist du nicht dort geblieben?«, würden sie mich fragen.
    »Warum bin ich nicht dort geblieben?«, würde ich mich auch selbst fragen.
     
    »Sie sind so still, Henrietta«, sagte Pastor Cordes jetzt. »Antworten Sie mir bitte. Möchten Sie mit uns nach Deutschland gehen? Möchten Sie als unsere Tochter bei uns leben?«
    Ich blickte ihn an und er sah die Antwort in meinen Augen, noch bevor ich sie aussprach.

 
Epilog
     
    Nun ist meine Zeit in Stellenbosch fast schon zu Ende. In einem Monat werde ich meine Prüfungen ablegen, dann erhalte ich mein Zertifikat als Lehrerin. Am liebsten würde ich sofort meine neue Stellung im Lovedale Missionary Institute beginnen. Die Lehrer und Schüler in Alice erwarten mich bereits sehnsüchtig, wie ich den Briefen des Schulleiters entnehme. Und ich selbst bin mindestens ebenso begierig, nun endlich in der Praxis zu erproben, was ich fünf Jahre lang in der Theorie studiert habe.
    Aber Pastor Cordes, seine Frau und vor allem Eva drängen mich, vorher noch einen Besuch in Göttingen zu machen. Pastor Cordes will mir in seinem nächsten Brief die Schiffspassage nach Hamburg schicken. »Kommen Sie zu uns, bevor Sie der Berufsalltag so fest im Griff hat, dass Sie ihm nicht mehr entfliehen können«, schrieb er mir kürzlich.
    Wenn er seine Ankündigung wahr macht und mir die Fahrkarte wirklich schickt, werde ich nicht ablehnen können. Ich verdanke Pastor Cordes so viel, ohne ihn wäre ich heute – nein, ich mag mir gar nicht ausmalen, wo ich heute wäre. Ganz gewiss nicht hier in Stellenbosch. Und schon gar nicht in wenigen Monaten als Lehrerin im Lovedale Missionary Institute in Alice.
    Lovedale. Der Name klingt wie eine Verheißung. Ich erwarte mir so viel von meiner ersten Anstellung.
    Ich wäre nach meiner Ausbildung gerne zurück nach Südwest gegangen. Aber dort hätte ich nur als Hauslehrerin für die Deutji arbeiten können, ich hätte die Kinder von Ingenieuren, Missionaren, Diplomaten erzogen. In Lovedale werde ich dagegen Xhosa-Mädchen unterrichten, Eingeborenenkinder, die ansonsten im ganzen südlichen Afrika an keiner Missionsschule aufgenommen werden. Als die Direktorin Miss Adler mir die Stelle offerierte, wusste ich, dass ich mich dort bewerben musste.
    »Warum wollen Sie denn ausgerechnet nach Lovedale?«, fragten mich die Herren des Kuratoriums bei dem Auswahlgespräch in Alice, zu dem ich vor vier Wochen eingeladen worden war.
    Ich erzählte ihnen von meiner Zeit in Petrus’ Nama-Dorf. Von meinen hilflosen Versuchen, den Negerkindern Lesen und Schreiben und biblische Geschichte beizubringen, und von meinem Scheitern.
    »Glauben Sie denn, dass Ihnen die Sache nun besser gelingen wird?«, wollte einer der Herren wissen.
    Ich antwortete ihm, dass ich heute im Gegensatz zu damals nicht mehr
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