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Im Land der Mond-Orchidee

Im Land der Mond-Orchidee

Titel: Im Land der Mond-Orchidee
Autoren: Anne Witt de
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niederzuschreiben. Sie
wunderte sich selbst, dass es ihr gelang, Erlebtes in Worte zu fassen. Früher
war es ihr schon schwergefallen, einen Brief zu schreiben, und jetzt flossen
ihr die Worte nur so aus der Feder, fast schneller, als sie sie niederschreiben
konnte. Sie hatte im Kramladen beim Bahnhof einen Stoß Kanzleipapier gekauft,
und das beschrieb sie nun Seite für Seite in ihrer kleinen, eckigen Schrift,
die immer mehr der Schrift ihrer Mutter ähnelte. Die Niederschrift war für ihr
Kind gedacht. Wenn es einmal lesen konnte, sollte es erfahren, wie seine Mutter
und sein Vater einander begegnet waren, wie sie einander wieder verloren hatten
und wie es in einer Stunde voller Seligkeit gezeugt worden war.
    Im September erhielt Neele zwei bedeutsame Nachrichten. Die eine
stand in einer Zeitung, die ihr jemand aus Norderbrake in den Postkasten
gesteckt haben musste, da sie selbst keine Zeitung abonniert hatte. »Raubmörder
zum Tode verurteilt.« Die andere stand in einem Brief
mit vielen fremdartigen Briefmarken und stammte von ihren Tanten. Der Brief war
in einem wunderlichen Stil abgefasst – offensichtlich hatten die beiden Damen,
die kein Deutsch sprachen, den Inhalt auf Sundanesisch diktiert und dann ins
Deutsche übersetzen lassen. Er besagte, dass sie beschlossen hätten, ihre
Nichte an den Einkünften ihrer Apotheke zu beteiligen und das Geld für das
erste Vierteljahr an die Deutsche Bank in Bremerhaven geschickt hatten, wo sie
es in bar abheben oder auf ein Konto legen konnte. Es handelte sich, wie Neele
auf Nachfrage in Bremerhaven erfuhr, um eine recht beträchtliche Summe. Sie hob
das ganze Geld ab, ebenso die immer noch auf dem Konto von »Frau Henderlein«
liegende Summe, und versteckte alles hinter einem losen Stein in der
Kellerwand. Sie traute jetzt niemandem mehr.
    Obwohl sie sich so abschottete, wusste ganz Norderbrake, dass sie
ein Kind erwartete, und zweifellos wurde über diesen Umstand viel geklatscht
und getratscht. Aber nachdem der erste Neugierige, der sich an den Moorhof
herangeschlichen hatte, vor den Zähnen der Metzgerhunde Reißaus nehmen musste,
wagte sich niemand mehr in die Nähe. Man war ganz allgemein der Ansicht, Neele
sei auf dem besten Weg, so verrückt zu werden wie ihre Mutter.
    Im Oktober steckte wieder eine Zeitung in ihrem Postkasten, diesmal
mit der Nachricht: »Hinrichtung des Raubmörders Selmaker«. Bald darauf kam ein
Schreiben der Behörde, das Neele bestätigte, dass sie nun dem Witwenstand
angehörte. Sie hatte Mühe, sich zu erinnern, dass Frieder Selmaker einst ihr
Gatte gewesen war. Nur die Erkenntnis, dass sie nun auch nach kirchlichem Recht
seiner ledig war, interessierte sie und erfüllte sie mit einem Gefühl tiefer
Befriedigung. Nie wieder würde er sie berühren können; nie wieder würde sie
gezwungen sein, sich mit Waffengewalt gegen ihn zu verteidigen. Ihr Körper
gehörte jetzt ganz ihr allein und Ameyas Kind, das sich immer deutlicher
bemerkbar machte.
    Im Haus kümmerte die junge Frau sich nur noch um die Küche und um
das Zimmer, das sie mit ihrem Kind bewohnen wollte, den Rest ließ sie
verwahrlosen. Ihr langes blondes Haar trug sie nicht mehr in einer sorgfältig
geflochtenen Zopfkrone, sondern ließ es ungekämmt über die Schultern hängen.
Paulas elegante Kleider waren längst voll Flecken von der täglichen Arbeit,
aber der Trägerin war es gleichgültig. Als der November kam und die Nordstürme
eiskalten Regen vom Meer hereintrugen, verkroch sie sich völlig im Haus, saß am
Kamin und schrieb bei Kerzenlicht, oder sie unterhielt sich, wie es ihre
Gewohnheit geworden war, halblaut mit Ameya und Bethari, als wären beide noch
um sie. Wenn die frühe Dunkelheit hereinbrach und das Haus mit Schatten erfüllte,
hatte Neele oft den Eindruck, dass ihr geliebter Mann in ihrer Nähe war. Dann
konnte sie sich einbilden, dass er nur eben ins Nebenzimmer gegangen war oder
im Stall Nachschau hielt. Immer häufiger schreckte sie nachts aus dem Schlaf in
der Überzeugung, dass er einen Augenblick zuvor noch ganz bei ihr gewesen war,
dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um seinen warmen Körper zu fühlen,
nur seinen Namen zu flüstern brauchte, um seine Stimme antworten zu hören. Wenn
die Hunde, Gryff und Fang, die abends zu ihren Füßen am Kamin lagen, die Köpfe
hoben und die Ohren spitzten, weil irgendwo hinter
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