Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien
Autoren: Andreas Altmann
Vom Netzwerk:
ich – wie augenblicklich – auf zwei Sitzen lümmeln darf und nichts zu tun brauche als zu schauen und zu fühlen. Ich kann in Ruhe mein Hirn sortieren, vorausplanen, nachdenken, lauschen. Ich bin sorglos, ein anderer entscheidet für die nächsten Stunden, ich fühle mich behütet, ich gehöre zum fahrenden Volk. Den Ausdruck mag ich. Das andere Volk ist wohl stehengeblieben.
    Ich vermute, das ist ein archaisches Urgefühl. Ich habe ein paar hunderttausend Kilometer meines Lebens in Bussen verbracht und dabei mit großer Regelmäßigkeit die gleichen Freuden erfahren. Am unverzichtbarsten scheint mir dabei das sanfte Schaukeln, es verführt zum Regredieren. Ich werde ganz leichtsinnig, oft jäh und ohne die geringste Provokation von außen lüstern. Das ist mein Kind in mir. Auch Fünfjährige in einer sacht schwingenden Wiege erregen sich. Weil sie sich im Einklang fühlen, weil die Körpersäfte Zeit und Ruhe haben, dorthin zu fließen, wohin sie wollen. Der Bus als Riesenvibrator.
    Und er dient als Beichtstuhl. Mit mir als Beichtvater und den seltsamen Vögeln, die der Zufall neben mich verschlägt: Wir lassen uns für eine bestimmte Weile gehen, haben Muße füreinander, ich darf zuhören, sie teilen. Gerade nachts, wenn die Dunkelheit das Gesicht der Beichtenden verschluckt.
    So soll eine Hymne folgen auf einen gewissen Carl Eric Wickman. Der umtriebige Mensch wurde berühmt als Gründer des Busunternehmens, das heute mit 2 400 Stationen und 18 000 Anfahrten und Abreisen pro Tag als das größte der Welt gilt. Als neugieriger Sechzehnjähriger verließ er Schweden und kam über Umwege nach Hibbling, ein Kaff in Minnesota, nicht weit von der kanadischen Grenze entfernt. Hier war es eisig und vertraut, hier gefiel es Carl. Hibbling blühte, Eisenerz war entdeckt worden, alle rannten herbei, die Schatzgräber, die Nutten, die Alkoholspediteure. Schon 1901 übervölkerten 3000 Einwohner das kleine Nest. In siebzig Saloons wurde gesoffen und gehurt. Auf Holztrottoirs wankte die Kundschaft hinterher nach Hause. Wickman erkannte das dringlichste Problem: keine öffentlichen Fortbewegungsmittel.
    Er traf einen anderen Schweden, Andrew Anderson, der mit einem Koffer Heringe ins Land kam. Die beiden montierten ein hupmobile – einer motorisierten Postkutsche nicht unähnlich – zu einem Siebensitzer um, zwängten bis zu achtzehn Bergleute hinein und kassierten 15 Cents pro Trip: vom Männerheim zur größten Kneipe. Und wieder zurück: wieder 18 mal 15 Cents.
    Damals war Spucken noch erlaubt, die Fenster standen weit offen, die meisten Passagiere – ausschließlich Männer – waren beharrliche Schnupftabak-Liebhaber. Das Unternehmen wurde bald als » Snoose-Line « – schwedisch für Schnupftabak – bekannt. Fröhliches In-den-Wind-Spucken und hurtiges Ausweichen all derer, die sich gerade nicht an Bord befanden, gehörten zum Alltag.
    Im Laufe der Jahre zivilisierten sich die Zustände, die beiden Einwanderer kauften andere Fuhrunternehmen auf, die Vehikel wurden länger, zwischendurch hießen sie » The Dachshund «. Irgendwann sah ein Fahrgast den Bus sich im Schaufenster eines Ladens spiegeln, wobei ihn das verzerrte, schnelle Bild an das elegante Sprinten eines Windhunds erinnerte. Ihm fiel das beste Wort ein, bald hieß die Firma »Greyhound «: ein catch word , ein Ausdruck, der zieht.
    Zu einem der Vergnügen beim Reisen durch die USA gehört Radiohören. Es gibt zwei Sorten von Stationen. Zuerst die privaten, sie fungieren als Anstalten zur sanften Vernichtung menschlicher Hirnzellen. Was um nichts das Vergnügen schmälert, sie bisweilen einzuschalten. Weil immer wieder das Unbegreifliche stattfindet: man nicht fassen will, was sie sich einfallen lassen, um uns mit Informationen von bestialischer Schlichtheit totzuwalzen.
    Und es gibt das Public Radio : Hier arbeiten sie ohne Werbespots, leisten brisanten Journalismus und müssen nebenbei und ununterbrochen einen Pump anlegen, um die Hörer anzubetteln, ganze 66 Dollar im Jahr zu überweisen, damit sie als Sender überleben können. Der Staat leistet einen finanziellen Beitrag, der nicht mehr als ein dünnes Feigenblatt und eine Schande ist.
    Hinter Baltimore bekomme ich den Christian Money Channel herein. Privat und christlich. Auch für Ex-Christen wie mich scheint Jack, gerade am Mikrofon, die drängendsten Fragen anzugehen. Thema des heutigen Nachmittags: »Wie kann ich mein Kapital gemäß den Worten des Herrn gewinnbringend anlegen?«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher