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Im Kühlfach nebenan

Titel: Im Kühlfach nebenan
Autoren: Jutta Profijt
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zeigte. Nein, diese Art von Bewusstsein
     ging ihm völlig ab. Sein Peino-Pegel lag immer bei hundertachtzig. Martin zog das Krankenzimmer vor, weil es dort eine sehr
     empfindliche Notrufanlage mit Fernbedienung gab, die auf allzu starke elektromagnetische Wellen empfindlich reagierte. Und
     elektromagnetische Wellen sind das, woraus ich bestehe. Daher musste ich in seinem Zimmer immer sehr vorsichtig mit Äußerungen
     oder Gefühlsausbrüchen sein.
    »Wann geht es denn nun endlich nach Hause?«, fragte ich.
    Ich hatte die letzten Wochen abwechselnd im Krankenhaus und im Rechtsmedizinischen Institut verbracht. In Martins Krankenzimmer
     war es deprimierend und technisch gefährlich, im Rechtsmedizinischen Institut dagegen langweilig, weil ich dort ja zu niemandem
     Kontakt aufnehmen konnte. Zwar hatte ich es bei Martins heißer Kollegin Katrin immer wieder probiert, hatte ihr hormonell
     gesteuerte Artigkeiten in die Glockengasse geflüstert, aber sie entwickelte keinerlei Gespür für mich. Martin war und blieb
     mein einziger Kontaktmann.
    »Montag«, entgegnete er einsilbig.
    |9| »Und wann gehst du wieder arbeiten?« »Dienstag, wenn alles gut geht. Oder Mittwoch.« Das waren gute Neuigkeiten. Sie stimmten
     mich milde, daher ließ ich Martin in Ruhe und zischte durch die Flure in Richtung Kinderstation. Dort war für elf Uhr der
     Auftritt des Clowns Zapperlapp angekündigt. Er kam jede Woche, um die Kurzen aufzuheitern. Bei gutem Wetter, wenn er auf dem
     Rasen vor dem Gebäude auftreten konnte, hatte er ein Kaninchen dabei, das ihn letzte Woche allerdings in den Finger gebissen
     hatte. Ich war neugierig, ob dem Fellträger dieser Fehltritt vergeben worden war oder ob der Clown privat weniger Spaß verstand
     und seinen Bühnenpartner geschmort, gewürzt und mit Klößen weggespachtelt hatte.
    Der kürzeste Weg zur Kinderstation führt an der Krankenhauskapelle vorbei, und so erwischten mich die Weihrauchschwaden mit
     voller Breitseite. Eigentlich habe ich mit Kapellen, Kirchen und dem lieben Gott nichts zu schaffen, denn spätestens seit
     ich tot bin, hätte der Typ sich ja mal bei mir melden können. Tat er aber nicht, daher war seine Existenz für mich noch unwahrscheinlicher
     geworden, als sie es sowieso schon die längste Zeit meines kurzen Lebens gewesen war.
    Aber Weihrauch mag ich. Er erinnert mich an Weihnachten mit meiner Oma, die, im Gegensatz zu meinen Eltern, nicht nur Socken,
     kratzige Wollpullover oder oberschlaue Physikbücher schenkte, sondern Filmfiguren wie R2D2 und James-Bond-Autos. Die mit den
     beweglichen Teilen. Außerdem mochte sie mich und ich mochte sie, und das war in unserer Familie schon etwas Außergewöhnliches.
     Ich zögerte also. Es war noch etwas Zeit bis elf, daher folgte ich meiner Kindheitserinnerung und schwebte in die Kapelle.
     Die Figur der Namenspatronin des Krankenhauses war mit Blumen geschmückt, wahrscheinlich |10| war heute ihr Heiligentag. Daher auch der Weihrauch. Ich genoss den Katholikenjoint und war gerade dabei, in frühkindliche
     Sentimentalität abzuschmieren, als mich die Erkenntnis traf.
    Ich war nicht allein. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass in den sechs Holzbänken niemand saß. Es gab weder einen Beichtstuhl
     noch sonstige dunkle Ecken, in denen sich ein Mensch hätte verstecken können. Trotzdem war jemand da. Und dieser jemand betete.
    »Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade   …« Ich zitterte ungefähr genauso wie die Kerzenflammen, die im Luftzug flackerten und unheimliche Schatten an die Wände warfen.
     »…   der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern   …«
    Wenn ich mal Weiber sage, sind alle entsetzt. »…   und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.« Gebenedeit? Nicht gebenedettot? Sind wir nun Papst, oder was? Ich kicherte.
     Das Gebet endete abrupt. »…?«
    Ja, meine Lektorin sagt auch, ein paar Satzzeichen und ein Fragekringel seien kein vernünftiger Diskussionsbeitrag. Eine Lektorin
     ist übrigens so was ähnliches wie eine Deutschlehrerin, die mit Rotstift im Aufsatz rumschmiert. Bei einem Buch darf also
     die Lektorin Fehler einkringeln, Bemerkungen an den Rand malen und böse Wörter streichen. Oder eine kleinkarierte Diskussion
     wegen einer wörtlichen Rede ohne Rede aber mit Fragezeichen vom Zaun brechen. Ich konnte in diesem Fall aber nicht klein beigeben,
     denn genau das, was da oben steht, waren die Wellen, die ich empfing. Keine Worte, nicht einmal ein klares »Hä?«,
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