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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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von ihnen entführt. Er besaß ein Haus am Fuße der Flatirons, wo er seine Spielchen mit ihnen getrieben, sie dann umgebracht und Weihnachtsschmuck aufgehängt hatte, der an sie erinnern sollte. Die Zeitungen nannten ihn den Weihnachtsmörder und sein Haus das Sleigh House. Ho, ho, ho.
    Meistens gelang es Ellen, bei der Arbeit ihre mütterliche Seite auszublenden und nicht daran zu denken, was Charlie Manx den kleinen Jungen und Mädchen, die ihm in die Hände gefallen waren, wahrscheinlich angetan hatte – Jungen und Mädchen, die kaum älter waren als ihr Josiah. Normalerweise vermied sie es tunlichst, sich irgendwelche Gedanken über ihre Patienten zu machen. Der Mann auf der anderen Zimmerseite hatte seine Freundin und ihre zwei Kinder gefesselt, das Haus in Brand gesteckt und sie den Flammen überlassen. Er wurde in einer Bar am Ende der Straße festgenommen, wo er Bushmills getrunken und sich ein Spiel der White Sox gegen die Rangers angesehen hatte. Darüber nachzudenken hatte einfach keinen Sinn, weshalb Ellen sich angewöhnt hatte, ihre Patienten lediglich als Anhängsel der medizinischen Apparaturen zu betrachten, mit denen sie verbunden waren: menschliche Peripheriegeräte.
    In all ihrer Zeit als Krankenschwester im Hochsicherheitsspital des FCI Englewood hatte sie Charlie Manx noch nie mit offenen Augen gesehen. Drei Jahre lang hatte er durchgängig im Koma gelegen. Er war der gebrechlichste ihrer Patienten – nur Haut und Knochen. Sein EKG-Monitor piepte wie ein Metronom, das auf die niedrigstmögliche Geschwindigkeit eingestellt war. Der Arzt sagte, er zeige so viel Gehirnaktivität wie eine Dose Mais. Niemand kannte sein wahres Alter, aber er sah älter aus als Keith Richards. Dem er im Übrigen sogar ein wenig ähnelte – ein kahlköpfiger Keith Richards mit einem Mund voller scharfer, brauner Zähne.
    Auf der Station gab es noch drei weitere Komapatienten, die von der Belegschaft als Kartoffeln bezeichnet wurden. Hatte man lange genug mit ihnen zu tun, fand man heraus, dass alle Kartoffeln so ihre Eigenheiten besaßen. Don Henry, der Mann, der seine Freundin und ihre Kinder verbrannt hatte, machte manchmal »Spaziergänge«. Natürlich stand er nicht auf, aber seine Füße zappelten schwach unter der Bettdecke. Ein anderer Patient, ein Mann namens Leonard Potts, lag schon seit fünf Jahren im Koma und würde nie wieder aufwachen – ein Mitgefangener hatte ihm einen Schraubenzieher durch die Schädeldecke ins Hirn gerammt. Manchmal jedoch räusperte er sich unvermutet und schrie laut: »Ich weiß es!« Wie ein kleines Kind, das die Frage eines Lehrers beantworten wollte. Vielleicht war es Manx’ Eigenheit, dass er gelegentlich die Augen öffnete, und Ellen hatte es nur noch nie miterlebt.
    »Hallo, Mr. Manx«, sagte sie automatisch. »Wie geht es Ihnen heute?«
    Mit einem routinierten Lächeln hielt sie inne, die auf Körpertemperatur erwärmte Blutkonserve noch in der Hand. Eine Antwort erwartete sie nicht, ließ ihm jedoch aus Höflichkeit einen Moment Zeit, seine nicht vorhandenen Gedanken zu sammeln. Als er nichts sagte, streckte sie eine Hand aus, um seine Augenlider wieder zu schließen.
    In diesem Moment packte er sie am Handgelenk. Unwillkürlich schrie sie auf, und die Blutkonserve glitt ihr aus der Hand. Der Beutel fiel zu Boden, und das Blut spritzte in alle Richtungen. Warme Flüssigkeit lief ihr über die Füße.
    »Ah!«, schrie sie. »Ah! Ah! O Gott!«
    Ein metallischer Geruch breitete sich im Raum aus.
    »Ihr Sohn Josiah«, sagte Charlie Manx mit rauer, kratziger Stimme. »Für den wäre auch Platz im Christmasland, wie für die anderen Kinder. Ich könnte ihm ein neues Leben geben. Ein nettes neues Lächeln. Hübsche neue Zähne.«
    Diesen verurteilten Mörder und Kinderschänder von ihrem Sohn reden zu hören war schlimmer als seine Hand an ihrem Arm oder das Blut auf ihren Füßen ( sauberes Blut, erinnerte sie sich, sauberes ). Ihr wurde ganz schwindelig, so als befände sie sich in einem gläsernen Aufzug, der rasend schnell in den Himmel schoss und die Welt unter sich zurückließ.
    »Lassen Sie mich los«, flüsterte sie.
    »Für Josiah John Thornton gibt es einen Platz im Christmasland und für Sie einen im Haus des Schlafes«, sagte Charlie Manx. »Der Gasmaskenmann wüsste, was mit Ihnen zu tun ist. Er würde Sie in Lebkuchenrauch hüllen und Sie dazu bringen, ihn zu lieben. Ins Christmasland kann ich Sie nicht mitnehmen. Nun, ich könnte schon, aber der Gasmaskenmann
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