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Im Dienste der Comtesse

Im Dienste der Comtesse

Titel: Im Dienste der Comtesse
Autoren: CLAIRE THORNTON
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machen. Und die wenigen, die kamen, waren danach nie wieder erschienen. Ihre Unfähigkeit, ihre Verlegenheit zu verbergen, hatte allen Beteiligten Unbehagen verursacht. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach keinen Gefallen daran finden, Gäste zu unterhalten, wenn sie sich nur halb bekleidet fühlte. Dabei hätte Bertier nicht einmal etwas dagegen gehabt; in dieser Hinsicht verhielt er sich so aufgeschlossen wie jeder andere Franzose auch.
    Pierre wog ihr schweres Haar behutsam in den Händen. Sie unterdrückte einen leichten Schauer bei diesem unerwartet angenehmen Gefühl und hob den Kopf gerade so, dass sie Pierre besser im Spiegel sehen konnte. Er betrachtete ihr Haar mit ausgesprochen konzentriertem Gesichtsausdruck. Mélusine stellte sich vor, wie die langen kastanienroten Strähnen über seine Handgelenke fielen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Jean-Baptiste je so etwas getan hätte oder so versunken in seine Aufgabe gewesen wäre. Zu ihrer Erleichterung konnte sie in Pierres Miene nicht diese sorgfältig kaschierte Verachtung entdecken, die sie so oft bei Jean-Baptiste wahrgenommen hatte.
    Pierre griff an ihr vorbei nach dem Kamm auf dem Frisiertisch und fing vorsichtig an, sie zu kämmen. Er trug eine schwarze Weste über einem weißen Hemd und dazu eine weiß gepuderte Perücke. Im Gegensatz zu Jean-Baptiste, der in ihrer Anwesenheit niemals auch nur ein Teil seiner Livree ablegte, hatte Pierre seinen Gehrock ausgezogen. Nach anfänglichem Erschrecken wurde ihr bewusst, dass das eine sehr praktische Entscheidung war. In dem locker sitzenden Hemd fiel ihm die Arbeit viel leichter. Jetzt, wo er gut geschnittene Kleidung trug, konnte sie sehen, dass sie recht gehabt hatte mit ihrer Vermutung, er wäre stark und kräftig gebaut. Sie fragte sich, wie er wohl ohne sein Hemd aussehen würde. Der Gedanke war faszinierend und ein wenig aufregend, aber natürlich gab es keine Möglichkeit, das herauszufinden.
    Mélusine hatte den Morgen damit verbracht, silberne Litzen an seinen Rock zu nähen. Alle anderen im Haus hatten dringendere Pflichten zu erledigen gehabt, aber sie konnte zu ihrer ersten Gesellschaft seit ihrer Rückkehr nach Paris nicht ohne einen Diener in Livree gehen, und sie wollte, dass er beeindruckend wirkte.
    „Sie werden niemandem verraten, dass ich die Litzen angenäht habe“, verlangte sie.
    „Nein, Madame.“ Irgendetwas an seinem Tonfall bewirkte, dass sie sich wieder wie das unerfahrene Mädchen vom Land fühlte, das durch Heirat in die höheren Ränge der Pariser Gesellschaft katapultiert worden war.
    Pierre hatte einer Duchesse gedient, war wahrscheinlich sogar deren Liebhaber gewesen, obwohl er das nicht bestätigen wollte. Für ihn war es sicher ein Abstieg, nun ihr zu dienen. Sie hatte ihm hochmütig mitgeteilt, die erste Woche wäre seine Probezeit, aber sah er sich womöglich schon nach einer eleganteren, vornehmeren Herrin um?
    Er war immer noch ganz auf ihr Haar konzentriert, daher wagte sie es, ihn direkt im Spiegel zu betrachten. Auf den ersten Blick unterschied ihn nichts von den vielen anderen männlichen Bediensteten, die sie bislang gesehen hatte – ordentlich gekleidet, zurückhaltend in seinen Bewegungen, berufserfahren und ausdruckslos. Nur war das ihrer Erfahrung nach das Ideal, nicht die Wirklichkeit. Ihrem Vater mochte der Anflug von Gereiztheit entgangen sein, wenn er einen Lakaien hinaus in den Regen geschickt hatte, ihr jedoch niemals. Genauso hatte sie auch Jean-Baptistes Geringschätzung gespürt und darunter gelitten. Er hatte niemals etwas Unangebrachtes gesagt oder getan, abgesehen von gelegentlichen Seitenblicken und geringschätzigem Fingerschnalzen, und doch hatte sie gewusst, dass er sie für ein verachtungswürdiges Subjekt hielt.
    Heute hingegen hatte Pierre sich wie ein perfekter Diener verhalten. Selbst bei seiner kühlen Antwort auf ihre Befürchtungen wegen der Silberlitze hatte sie nur das unbestimmte Gefühl gehabt, dass er derlei Klatsch und Tratsch für unter seiner Würde hielt. Sie beobachtete seine ausdruckslose Miene, während er ihr das Haar kämmte, und kam zu dem Schluss, dass sie schon Automaten auf Jahrmärkten gesehen hatte, die mehr Persönlichkeit gezeigt hatten als er. Doch sie wusste, dass er auch anders sein konnte.
    Immer wieder musste sie an ihre erste Begegnung denken, und diesen Augenblick hatte sie mit einer Mischung aus unschicklicher Aufregung und Panik entgegengesehen, überzeugt davon, einen
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