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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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noch, wie du dich mit den anderen Jungen gezofft hast. Und ich muss sagen, du hattest Mumm. Du bist nie weggerannt. Du hast ordentlich eingesteckt, aber weggerannt bist du nie.
    I: Wie sollte ich denn wegrennen? Wo Sie doch ständig hinter mir standen und mir sagten …
    W: Aber vor allem erinnere ich mich an die Nachmittage, an denen du dich mit drei oder vier meiner Hefte in den Sessel im Arbeitszimmer deines Vaters setztest.
    I: Der Sessel, wer weiß, wo der geblieben ist. Das hatte ich vergessen, das hatte ich wirklich vergessen … Stimmt, da hab ich gesessen. Das wusste ich nicht mehr.
    W: Es war in der Lücke zwischen den Panels gelandet. Ich hab dir doch gesagt, du kannst dir nicht vorstellen, wie viel du da findest, wenn du anfängst zu suchen. Ich erinnere mich noch an diese Nachmittage im …
    I: Im Frühling?
    W: … diese Nachmittage im Frühling. Du hattest so eine Art Ritual. Du machtest dir ein Schinkenbrötchen, und dann nahmst du drei oder vier deiner Lieblingshefte und setztest dich in diesen Sessel meines Vaters.
    I: Hey! Sie haben gesagt: » meines Vaters«.
    W: Habe ich das? Seltsam, das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich wollte natürlich sagen: » deines Vaters«.
    I: (will etwas sagen, überlegt es sich aber anders und schweigt)
    W: Ich erinnere mich noch an das Sonnenlicht, das durch die halb geschlossenen Fenster des Arbeitszimmers fiel. Ich sah dir beim Lesen zu, betrachtete dein Gesicht und dachte, alle Nachmittage müssten so perfekt sein. Alle Erinnerungen müssten so perfekt sein.
    I: Ich fasse es nicht.
    W: Ich muss jetzt gehen, aber eines muss ich dir noch sagen.
    I: …
    W: Weißt du noch, dass du irgendwann, vielleicht mit achtzehn oder neunzehn, aufgehört hast, meine Geschichten zu lesen?
    I: Ja, ungefähr um die Zeit.
    W: Weißt du auch noch, warum?
    I: Tja, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber, na ja, sie gefielen mir nicht mehr so gut.
    W: Ach, ja? Erinnerst du dich nicht mehr daran, als wir uns zum letzten Mal sahen? Erinnerst du dich nicht mehr, was ich dir zum Abschied sagte?
    Die Melodie von As time goes by erklingt im Hintergrund.
    I: Ehrlich gesagt, nein.
    W: Du entwickelst allmählich ein bisschen eigenen Stil. Weißt du, ich glaube, du brauchst mich in Zukunft nicht mehr. Ich wüsste nicht, was ich dir noch sagen könnte, was du nicht schon weghast.
    I: Hey … Das sagt Bogart zu Woody Allen.
    W: (grinst verschmitzt, als hätte man ihn durchschaut) Richtig, schließlich kommen Bogart und ich aus derselben Welt. Da läuft man sich schon mal über den Weg. Und jetzt muss ich wirklich los.
    Er setzt sich in Bewegung, macht zwei Schritte, dann bleibt er stehen und sagt langsam seinen letzten Satz.
    W: Und denk an die Zeit zwischen den Panels. Dort geschieht das Wesentliche.

Giulia

Es war ein Freitagabend im Winter, stundenlang war ich über die menschenleere Autobahn gefahren und hatte endlich die Mautstation Bari Nord erreicht. Ich hatte die dreitägige Jahreskonferenz der Italienischen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie hinter mich gebracht und war reichlich bedient.
    Ich hatte es eilig, wollte nach Hause, duschen und mich mit einem Bier und einem Brötchen vor den Fernseher hängen. Alles andere konnte mir an diesem Abend gestohlen bleiben.
    Der Kassierer gab mir meine Mautkarte zurück, und ich wollte gerade wieder den Motor starten, der wie üblich abgesoffen war. In dem Moment klopfte es leise gegen die rechte Tür. Ich fuhr herum, doch die Scheibe war beschlagen.
    Ich musste das Fenster herunterlassen, um das Gesicht des kleinen Mädchens zu sehen. Wortlos blickten wir uns an. Sie sprach als Erste.
    »Kann ich einsteigen?«
    »Wo kommst du denn her?«
    »Ich hab mich verlaufen. Kann ich einsteigen?« Ihre Stimme klang ungeduldig.
    Ich lehnte mich hinüber, um zu öffnen, und sie kletterte auf den Beifahrersitz.
    »Danke.«
    Sie war nicht älter als sieben oder acht, trug ein völlig unpassendes Sommerkleidchen mit einem großen Riss und hielt eine kleine, hellblaue Strohtasche in der Hand. Mir war, als hätte ich sie schon einmal irgendwo gesehen.
    »Wo sind deine Eltern?«
    »Die sind jetzt zu Hause. Kannst du mich mitnehmen?«
    Ich wollte etwas erwidern, doch dann ging mir auf, dass ich gerade mit einem kleinen Mädchen in zerrissenen Kleidern im Auto an einer Mautstelle stand. Und das am späten Abend. Es wäre unangenehm, die Sache bei einer eventuellen Polizeikontrolle erklären zu müssen. Also fuhr ich, ohne etwas zu sagen, los und verschob die Fragen
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