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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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auf später.
    Das Mädchen saß mit gefalteten Händen und der Tasche im Schoß auf der Sitzkante. Als ich sie bat, nach hinten zu rücken und sich anzuschnallen, drehte sie sich langsam – sehr langsam – und mit einem leisen, entrückten Lächeln zu mir hin.
    Sie sah mich einige Sekunden an – ich spürte es mehr, als dass ich es sah –, legte dann ebenfalls ganz langsam und mit den bedachten Bewegungen eines Kindes, das sich erwachsen benehmen will, den Sicherheitsgurt an und lehnte sich zurück.
    Ich bin Kinderpsychologe, und normalerweise bringen Kinder mich nicht in Verlegenheit. An dem Abend schon.
    »Wie heißt du?«
    »Giulia.«
    »Was hattest du um diese Zeit an der Mautstation verloren?«
    »Ich hab mich verlaufen.«
    »Und wo soll’s jetzt hingehen?«
    Sie antwortete nicht sofort. Sie öffnete ihr Strohtäschchen, holte einen Zettel hervor – eine karierte Heftseite – und las eine Adresse in Bari vor. Nicht weit von dort, wo ich wohne.
    Wie seltsam, dachte ich. Sie hat ihre Anschrift dabei.
    Ob sie mir auch eine Telefonnummer sagen könne? Dann könnte ich anrufen und sagen, dass wir auf dem Weg seien. Sie hatte keine Telefonnummer. Na dann, fahren wir, dachte ich, in zehn Minuten sind wir ohnehin dort.
    Während der Fahrt bekam ich nur wenig heraus. Sie war noch nicht ganz acht Jahre alt, konnte sehr gut malen und dachte sich gern Geschichten aus, die sie dann illustrierte.
    Sie mochte das Meer. Sehr, sagte sie, und ich meinte eine gewisse Wehmut herauszuhören.
    Ich fragte sie, ob sie Geschwister habe.
    »Nein. Mama und Papa sind allein geblieben.«
    So drückte sie sich aus, und ich dachte noch, was für eine seltsame Antwort.
    Kurz vor elf waren wir da. Ich parkte den Wagen in zweiter Reihe vor dem Haus und wollte aussteigen. Ich wollte sie hineinbringen, mit den Eltern reden und die Situation erklären.
    Doch das Mädchen schnallte sich hastig ab und sagte mir, ich solle nicht aussteigen. Dabei umfasste sie mein Handgelenk und hielt mich zurück. Sie öffnete die Wagentür, dann drehte sie sich unversehens noch einmal um und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
    In dem Moment durchfuhr mich eine abgrundtiefe, namenlose Traurigkeit. So heftig und unerwartet, dass ich für einen Moment die Augen schließen musste.
    Als ich sie wieder öffnete, war das Mädchen fort. Ich fragte mich, wie sie es in diesen wenigen Sekunden geschafft hatte, zu klingeln, sich die Tür öffnen zu lassen und im Haus zu verschwinden. Ohne ein Geräusch.
    Am liebsten wäre ich ihr gefolgt, doch dann fiel mir ein, dass ich noch nicht einmal gewusst hätte, wo ich klingeln sollte, und dass es abermals schwierig geworden wäre, jemandem die Sache zu erklären.
    Also machte ich mich auf den Weg nach Hause.
    Ich war sehr müde.
    Der nächste Tag war Heiligabend. Ich schälte mich gemächlich aus dem Bett und verließ das Haus, um in der Bar nebenan zu frühstücken und Zeitung zu lesen.
    Mutmasslicher Mörder der kleinen Giulia
begeht nach Freispruch Selbstmord
    Wenige Tage nach dem Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes der kleinen Giulia M. kommt der wohlhabende Antiquitätenhändler P. P. aus Bari bei einem Sturz von der Terrasse seiner Wohnung im fünften Stock ums Leben. Die eingehende Untersuchung der Wohnung durch die Spurensicherung hat keinerlei Hinweise auf Einbruch oder Fremdeinwirkung ergeben. Die Polizei geht von Selbstmord aus. Dennoch seien andere Tathergänge nicht auszuschließen, so die Ermittler.
    Es folgte eine Beschreibung der dramatischen Urteilsverkündung. »Verfluchter Mörder«, hatte Giulias Vater gebrüllt, und die Mutter hatte, wie schon während des gesamten Prozesses, haltlos geweint.
    Im Innenteil folgte ein detaillierter Bericht mit einem Foto des Mädchens.
    Jenes Mädchens.
    Ich erinnerte mich an die darin zusammengefassten Ereignisse, ein Verbrechensfall, der exakt ein Jahr zurücklag. Dennoch las ich mechanisch weiter, als müsste ich Zeit gewinnen, um zu begreifen, was mir widerfahren war. Was mir widerfuhr.
    Die Familie der kleinen Giulia M. stammte aus Bari und lebte in Bologna. Die Weihnachtsferien verbrachten sie bei den Großeltern in Bari. Sie fuhren mit dem Auto dorthin. Gleich nach der Mautstation Bari Nord hatte der Vater einen Platten bemerkt und angehalten, um den Reifen zu wechseln. Alle drei waren ausgestiegen, und auf einmal hatten Mutter und Vater das Kind nicht mehr gesehen.
    Zwei Tage später hatte man es in einem vierzig Kilometer weiter südlich
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