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Illettrismus Version Open Doc

Illettrismus Version Open Doc

Titel: Illettrismus Version Open Doc
Autoren: France Carol
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immer seltener die Schule besuchte. Es hatte ihm eigentlich nicht viel ausgemacht, denn die meisten Leute des Dorfes hatten ebenso wenig Bildung wie er. Als die Großmutter starb, wurde Boris von seiner Mutter nach Deutschland geholt, wo sie Jahre zuvor einen hiesigen Landsmann geheiratet hatte, aber mittlerweile bereits wieder geschieden war. Heute vermutete er, dass sie die Ehe nur für eine Aufenthaltsgenehmigung eingegangen war, aber sicher wusste er das nicht.
    Als er hier ankam, konnte er kein Wort Deutsch, wurde aber trotzdem in eine Schule gesteckt, in der sich der Ausländeranteil bei neunzig Prozent belief. Dies bedeutete, dass sich die Schüler meist nur mit ihren eigenen Landsleuten in deren Landessprache unterhielten. Auch er hatte Glück und traf in seiner Klasse auf zwei weitere Russen, die ihn die nächsten zwei Jahre irgendwie mitzogen.
    Natürlich war es den Lehrern irgendwann aufgefallen, dass Boris‘ Deutsch auch nach zwei Jahren in diesem Land noch immer dürftig war, weshalb man ihm eine Nachhilfestunde anbot, die er auch annahm. Der Nachhilfelehrer hatte jedoch weniger Interesse an der Sprachentwicklung, sondern bedeutend mehr an seinem Körper. Er war es auch, der Boris in die schwulen Sexpraktiken einführte, worin er auch ein äußerst gelehriger Schüler war und großes Talent zeigte. Gegen die Lese- und Schreibschwäche wurde jedoch kaum etwas getan.
    Den Schulabschluss erhielt Boris vermutlich aufgrund seiner hervorragenden mündlichen Leistungen und sicher auch, weil die meisten Lehrer ein Auge zudrückten, als es um die Benotung ging. Zudem war er in Mathematik gut, denn mit Zahlen hatte er keine Mühe. Schlussendlich war es aber wohl auch so, dass man ihn einfach in Ruhe ließ, weil man froh war, dass er sich meist ruhig im Unterricht verhielt, was man von den anderen in der Klasse nicht gerade behaupten konnte. Ob die Lehrerschaft also wusste, ob er ein Analphabet war oder nicht, konnte Boris nicht genau sagen, es war aber auch egal, denn Tatsache war, dass er das Ausmaß dieses Defizites erst im Erwachsenenleben richtig erkannte.
    Es war ihm nie möglich, den Führerschein zu machen. Er konnte keine Einbürgerung beantragen, weil man einem Analphabeten aufgrund seines Unvermögens, Formulare oder Schriftstücke zu lesen und diese damit auch zu verstehen, keine gewährte. Für jeden Gang auf ein Amt, oder bei einem Vertragsabschluss brauchte er die Hilfe eines Freundes, der für ihn alles durchlas und ihm erklärte, worum es ging. Ohne Tarek, der ihm seit Jahren Briefe und Rechnungen durchging, würde er selbst im Alltag einfach nur scheitern. Es war Boris auch nie möglich gewesen, einen Beruf zu erlernen, so dass der Job als Möbelpacker schlussendlich ein Segen war und er bis heute Mikail dafür Dank schuldete. Sein Boss wusste ebenfalls von der Schwäche und hatte mehrmals versucht ihn zu motivieren, das Problem noch einmal anzugehen, aber er war nicht bereit, noch einmal dieses Gefühl des Versagens zu erleben.
    Boris hatte sich in all den Jahren den Luxus einer Beziehung verwehrt, weil er es einfach nicht ertragen konnte, sich dem Spott auszusetzen. Natürlich war auch er einmal verliebt gewesen, hatte jedoch bald bemerkt, wie sich der Kerl über Leute mit einem Makel lustig gemacht hatte, so dass er die beginnende Romanze gleich im Keim erstickte und sich daraufhin schwor, niemanden mehr so nahe an sich heranzulassen.
    Aus reinem Selbstschutz hatte sich Boris sogar selbst die ganze Zeit eingeredet, dass er nichts vermisste und ihm die One-Night-Stands gefielen, doch insgeheim sehnte er sich nach Nähe wie jeder andere auch. Das erste Mal war ihm das bei Janik aufgefallen, der mit seiner unsicheren Art Boris‘ Beschützerinstinkt hervorrief, weil dieser jahrelang als Sklave eines Masters in einer entwürdigenden Beziehung gelebt hatte. Boris machte sich damals Hoffnungen in Janik jemanden gefunden zu haben, dem er sein Geheimnis anvertrauen konnte, ohne dafür verspottet zu werden. Sicher wäre Janik verständnisvoll gewesen, doch leider hatte dieser sein Herz bereits an Mesut verloren.
    Und nun war ihm Silas über den Weg gelaufen und hatte den mühsam errichteten Schutzwall einfach durchbrochen. Boris hätte schon längst aufhören sollen, diesen Kerl zu treffen, war aber einfach unfähig gewesen, den Schlussstrich zu ziehen. Silas war ihm klammheimlich unter die Haut
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