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Illettrismus Version Open Doc

Illettrismus Version Open Doc

Titel: Illettrismus Version Open Doc
Autoren: France Carol
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dass wir wieder dort weitermachen können, wo wir aufgehört haben.“
    „Das war keine Pause. Wir haben Schluss gemacht, Herrgott nochmal. Und nun nimm endlich deine Pfoten von mir“, zischte Silas wütend.
    „Du willst mir doch nicht weismachen, dass du mich gegen diesen minderbemittelten Russen austauschen willst. Mag ja sein, dass er ein begnadeter Stecher ist, aber ansonsten ist er wohl kaum vorzeigbar oder willst du ihn etwa in deinen Leserclub mitnehmen“, erklärte Rolf mit einem hämischen Grinsen, wobei er aber  Boris anblickte.
    „Wie kannst du nur über jemanden urteilen, den du nicht kennst und über den du gar nichts weißt? Und was soll denn das überhaupt mit dem Leserclub?“, fragte Silas fassungslos und bemerkte gleichzeitig, wie sich der Russe zu seiner ganzen Größe aufbaute. Boris schien in Abwehrstellung zu gehen und ein Blick in sein Gesicht zeigte blanke Wut aber auch … Angst.
    „Nun, ich denke, dein Russe würde nicht gerade eine gute Figur abgeben, wenn er sich über ein Buch äußern müsste, vor allem, weil man ja wohl in der Lage sein sollte, dieses vorher zu lesen, nicht wahr Boris?“, sagte Rolf in einem vor Sarkasmus triefenden Tonfall.
    „Was soll denn diese Bemerkung, verdammt nochmal, ich verstehe kein Wort“, fragte Silas und blickte verwirrt zwischen dem Russen und seinem Ex-Freund hin und her.
    „Oh, hat er dir etwa nicht gesagt, dass er gar nicht lesen und …“
    Noch bevor Silas reagieren konnte, krachte eine Faust mitten in Rolfs Gesicht, so dass dieser nach hinten fiel und benommen auf dem Boden aufschlug. Beinahe hätte er Silas noch mitgerissen, weil er die Arme immer noch um ihn geschlungen hatte, aber Boris hielt ihn fest.
    Schwer atmend schien sich der Russe zu überlegen, ob er sich noch einmal auf Rolf stürzen sollte, doch dann blickte er Silas nur gequält an. Kopfschüttelnd drehte sich Boris um und verließ ohne ein Wort zu sagen den Club.
    ***
    Seit Stunden lief Boris nun schon ziellos durch die dunklen Straßen der Stadt und versuchte wieder zur Ruhe zu kommen, was jedoch unmöglich schien. Nie hatte er sich mehr gedemütigt gefühlt. Erst hatte er nicht richtig begriffen, worauf Rolf hinaus wollte, doch dann… Wie hatte dieses Arschloch nur herausfinden können, dass Boris nicht lesen und schreiben konnte?
    Seit mehr als zehn Jahren hütete er dieses Geheimnis wie einen Schatz und bis auf ein paar wenige Menschen wusste niemand, dass er Analphabet war. In seinem Fall sprach man ja eher von ‚funktionalem Analphabetismus‘ oder auch ‚Illettrismus‘. Boris hatte nämlich durchaus einen Schulabschluss und kannte auch die Buchstaben, aber er war schlicht und einfach unfähig, sie zu einem sinnvollen Wort zu vereinen. Einzelne Wörter konnte er zwar entziffern, aber einen Text… Nie und nimmer.
    In den vergangenen Jahren hatte er dreimal den Versuch unternommen, sich bei Stellen, die sich mit diesem Problem befassten, Hilfe und Unterstützung zu holen, um das Lesen und Schreiben doch noch zu erlernen, aber er hatte jedes Mal wieder aufgegeben. Die Scham saß einfach zu tief, denn wenn er versuchte vorzulesen, brachte er die Wörter nur unter entwürdigendem Stottern heraus. Selbst ein Kind in der Grundschule konnte fließender lesen.
    Obwohl Tarek und Vladek versucht hatten, ihn immer wieder aufzubauen und zu ermutigen, hatte er schlussendlich doch die Flinte ins Korn geworfen und geschworen, sich nie mehr solchen Demütigungen auszusetzen.
    Also hatte er sich mit seiner Schwäche arrangiert und über Jahre zahllose trickreiche Methoden ausgetüftelt, damit niemand die Beeinträchtigung bemerkte. Tatsächlich war sein Gedächtnis besser trainiert, als bei vielen anderen Leuten, weil er sich ja nichts aufschreiben konnte, sondern alles merken musste. 
    Er war oft gefragt worden, wieso niemand die Schwäche bemerkt hatte und wie er überhaupt zu einem Schulabschluss gekommen war, doch darauf antwortete er meistens nur mit einem Achselzucken. Viele Faktoren waren dafür verantwortlich gewesen, dass er nie richtig Schreiben und Lesen gelernt hatte.
    Angefangen hatte es sicher in Russland, wo er bis zum zwölften Lebensjahr bei seiner Großmutter auf dem Lande aufgewachsen war. In der kargen Gegend, in der er damals lebte, war die Landwirtschaft weit wichtiger fürs Überleben als eine Schulausbildung, weshalb er oft auf den Feldern seiner Onkel mitarbeiten musste und
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