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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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möge. Und natürlich endet sie nicht. Bis zuletzt, bis zum Zusammenbruch des Regimes, bleibt Victor Klemperer ein hilfloses Opfer des antisemitischen Wahns.
    Die Genauigkeit, mit der er die ihm widerfahrenen Demütigungen protokolliert, erklärt sich nicht zuletzt mit seiner Biografie. 1881 als Sohn eines Rabbiners in Landsberg an der Warthe geboren und in Berlin aufgewachsen, hatte sich Klemperer stets um Aufnahme in die nichtjüdische Welt des wilhelminischen Kaiserreichs bemüht: Er ließ sich protestantisch taufen, er meldetesich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger an die Front und wurde mit einem Orden ausgezeichnet, er studierte und wurde zum Professor berufen, er bekannte sich offen zum übersteigerten Patriotismus seiner Zeit und verurteilte den Zionismus. Kurzum, Klemperer wollte stets als Deutscher unter Deutschen leben. Dass sie ihm dieses Recht nun plötzlich entzogen, verwundete ihn zutiefst.
    Systematisch registrierte er die alltäglichen Indizien der Ausgrenzung. Klemperer verlor seine Professur, er durfte nicht mehr publizieren, man verbot ihm das Autofahren und vertrieb ihn aus seinem Haus, er durfte nicht mehr ins Kino oder ins Theater, schließlich war ihm auch der Besuch von Bibliotheken nicht mehr erlaubt. Als Wissenschaftler war er damit entwurzelt – schreiben konnte er jetzt nur noch über sich selbst und seine persönliche Sicht der Nazi-Herrschaft. So entstanden in den Kriegsjahren nicht nur Tagebücher, sondern auch eine Autobiografie (»Curriculum Vitae«) sowie Skizzen für die bis heute bemerkenswerte Studie »LTI« über die Sprache des »Dritten Reiches« (»Lingua Tertii Imperii«).
    Am Ende war das Schreiben sein einziger Trost, sein letztes Reservat in einer Welt des Terrors. Victor Klemperer wurde auf offener Straße angepöbelt und angespuckt, er musste mit seiner Frau in sogenannten Judenhäusern unter äußerst beengten Verhältnissen leben und dort mehrmals völlig willkürliche Hausdurchsuchungen der Gestapo über sich ergehen lassen, bei denen die beiden geschlagen und getreten wurden, und das letzte ihnen noch verbliebene Inventar aus den Schränken gerissen wurde – eine »viehische Verwüstung durch grausame und besoffene Affen«, wie er am 23. Mai 1942 wütend notierte.
    Die Klemperers hungerten, weil er als Jude kaum noch Lebensmittel kaufen konnte, sie froren, weil ihnen kein Brennmaterial mehr zugeteilt wurde. Immer neue Schikanen ließen sie verzweifeln. »Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf«, schrieb er am 8. April 1944.
    Natürlich hatte Klemperer Angst vor dem gewaltsamen Tod,zumal ihm »religiöse und philosophische Tröstungen vollkommen versagt« seien, wie er am 31. Dezember 1944 bekannte. »Es handelt sich nur darum, Haltung bis zuletzt zu bewahren.« Zu diesem Zeitpunkt wusste der Gelehrte bereits das, was viele Deutsche noch Jahre nach dem Krieg nicht wahrhaben wollten, nämlich dass »sechs bis sieben Millionen Juden geschlachtet (genauer: erschossen und vergast) worden sind« – eine Notiz aus dem Oktober 1944.
    »Katastrophale Nachrichten« über die »Judenverschickungen nach Polen und Russland«, hatte er bereits im November 1941 notiert. Und am 1. März des folgenden Jahres: »Es liegt jetzt so, dass KZ offenbar identisch mit Todesurteil ist. Der Tod der Überführten wird nach wenigen Tagen gemeldet.« Zwei Wochen später heißt es: »Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen«, dagegen seien die Zustände in Buchenwald »nicht unbedingt und sofort tödlich, aber ›schlimmer als Zuchthaus‹«. Und am 19. April 1942 notierte er: »Grauenhafte Massenmorde an Juden in Kiew. Kleine Kinder mit dem Kopf an die Wand gehauen, Männer, Frauen, Halbwüchsige zu Tausenden auf einem Haufen zusammengeschossen.«
    Klemperer hatte all das und noch viel mehr erfahren – er, der er kein Radio mehr besitzen durfte und deswegen mehr als alle anderen Deutschen von jeder Information aus dem Ausland abgeschnitten war. Nach der Lektüre seiner Tagebücher bleibt von der Legende, dass die Deutschen vom Holocaust nichts gewusst hätten, wenig übrig. Wer wissen wollte, konnte eine Menge über den Genozid in Erfahrung bringen, nur wem das Schicksal der Juden absolut gleichgültig war, dem blieb der Schrecken in der Regel verborgen.
    Je länger NS-Diktatur und Krieg dauerten, desto mehr wurden die Deutschen dem überzeugten Patrioten Klemperer zum Rätsel. Zwar
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