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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Tiere … Aber Deutsche. Thieme schwärmte von dem starken Sozialismus der Nazis, zeigte mir ihren Aufruf zu Betriebsratswahlen im Sachsenwerk. Einen Tag darauf waren die Wahlen vom Kommissar Killinger verboten.
    Eigentlich ist es furchtbar leichtsinnig, dies alles in mein Tagebuch zu schreiben.
30. März, Donnerstag
    Gestern bei Blumenfelds mit Dembers zusammen zum Abend. Stimmung wie vor einem Pogrom im tiefsten Mittelalter oder im innersten zaristischen Rußland. Am Tage war der Boykott-Aufruf der Nationalsozialisten herausgekommen. Wir sind Geiseln. Es herrscht das Gefühl vor (zumal da eben der Stahlhelmaufruhr in Braunschweig gespielt und sofort vertuscht worden), daß diese Schreckensherrschaft kaum lange dauern, uns aber im Sturz begraben werde. Phantastisches Mittelalter: »Wir« – die bedrohte Judenheit. Ich empfinde eigentlich mehr Scham als Angst, Scham um Deutschland. Ich habe mich wahrhaftig immer als Deutscher gefühlt. Und ich habe mir immer eingebildet: 20. Jahrhundert und Mitteleuropa sei etwas anderes als 14. Jahrhundert und Rumänien. Irrtum. – Dember malte die geschäftlichen Folgen aus: Börse, Rückschläge auf christliche Industrie – und alles dieswürden dann »wir« mit unserem Blut bezahlen. Frau Dember erzählte durchgesickerten Mißhandlungsfall eines kommunistischen Gefangenen, Tortur durch Rizinus, Prügel, Angst – Selbstmordversuch. Frau Blumenfeld flüsterte mir zu, der zweite Sohn Dr. Salzburgs, stud. med., sei verhaftet – man habe Briefe von ihm bei einem Kommunisten gefunden. Wir gingen (nach reichlich gutem Essen) auseinander wie bei einem Abschied an die Front. –
    Gestern jämmerliche Erklärung der »Dresdener NN« »in eigener Sache«. Sie seien zu 92,5 Prozent auf arisches Kapital gestützt, Herr Wollf, Besitzer der übrigen 7,5 Prozent, lege Chefredaktion nieder, ein jüdischer Redakteur sei beurlaubt (armer Fantl!), die andern zehn seien Arier. Entsetzlich! – In einem Spielzeugladen ein Kinderball mit Hakenkreuz.
31. März, Freitag abend
    Immer trostloser. Morgen beginnt der Boykott. Gelbe Plakate, Wachen. Zwang, christlichen Angestellten zwei Monatsgehälter zu zahlen, jüdische zu entlassen. Auf den erschütternden Brief der Juden an den Reichspräsidenten und die Regierung keine Antwort. – Man mordet kalt oder »mit Verzögerung«. Es wird »kein Haar gekrümmt« – man läßt nur verhungern. Wenn ich meine Katzen nicht quäle, bloß ihnen nicht zu fressen gebe, bin ich dann Tierquäler? – Niemand wagt sich vor. Die Dresdener Studentenschaft hat heute Erklärung: geschlossen hinter … und es ist gegen die Ehre deutscher Studenten, mit Juden in Berührung zu kommen. Der Zutritt zum Studentenhaus ist ihnen verboten. Mit wieviel jüdischem Geld wurde vor wenigen Jahren dies Studentenhaus gebaut!
    In Münster sind jüdische Dozenten bereits am Betreten der Universität verhindert worden.
    Der Aufruf und Befehl des Boykottkomitees ordnet an: »Religion ist gleichgültig«, es kommt nur auf die Rasse an. Wenn bei Geschäftsinhabern der Mann Jude, die Frau Christin ist oder umgekehrt: so gilt das Geschäft als jüdisch. –
    Gestern abend bei Gusti Wieghardt. Gedrückteste Stimmung. In der Nacht gegen drei – Eva schlaflos – riet mir Eva, heute die Wohnung zu kündigen, um eventuell einen Teil davon wieder zu mieten. Ich habe heute gekündigt. Die Zukunft ist ganz ungewiß. Ich habe heute Prätorius Auftrag gegeben, den Zaun um mein Terrain zu bauen. Das kostet 625 M. Meine ganzen Reserven sind etwa 1100 M (bei 2000 M Schulden an die Iduna). Alles ist aussichtslos und sinnlos.
    Am Dienstag im neuen »Universum«-Kino in der Prager Straße. Neben mir ein Reichswehrsoldat, ein Knabe noch, und sein wenig sympathisches Mädchen. Es war am Abend vor der Boykottankündigung. Gespräch, als eine Alsbergreklame lief. Er: »Eigentlich sollte man nicht beim Juden kaufen.« Sie: »Es ist aber so furchtbar billig.« Er: »Dann ist es schlecht und hält nicht.« Sie, überlegend, ganz sachlich, ohne alles Pathos: »Nein, wirklich, es ist ganz genau so gut und haltbar, wirklich ganz genauso wie in christlichen Geschäften – und so viel billiger.« Er: schweigt. – Als Hitler, Hindenburg etc. erschienen, klatschte er begeistert. Nachher bei dem gänzlich amerikanisch jazzbandischen, stellenweise deutlich jüdelnden Film klatschte er noch begeisterter.
3. April, Montag abend
    Am Sonnabend rote Zettel an den Geschäften: »Anerkannt deutschchristliches Unternehmen«.
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