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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Bestellungen bei Hauber, Dung, Instrumente … Ich habe immer wieder Augenblicke, in denen mich die Geldangst fast erstickt; aber teils durch Abstumpfung, teils durch Disziplin bin ich dahin gekommen, prinzipiell nicht über den Tag oder allenfalls den Monat hinaus zu disponieren. Eine im nächsten Monat zu bezahlende Rechnung zwinge ich aus meinen Gedanken heraus. Vielleicht werde ich doch durchkommen, vielleicht wird ein Wunder geschehen, vielleicht werde ich gepfändet werden – aber doch alles erst im übernächsten Monat. Hat Eva bis dahin ein paar Weinkrämpfe weniger, versagt mir bis dahin das Herz ein paarmal weniger: so ist doch auch etwas gewonnen. Immerhin lastet der dumpfe Druck ständig auf mir.
    Ebenso, im engen Zusammenhang mit der Geldsorge, mein Verhalten zur Berufssorge. Das neue Semester beginnt erst am 7. Mai; bis dahin ist relative Sicherheit. Vielleicht werde ich dann keine Hörer mehr haben und abgebaut werden wie Blumenfeld. Es ist ja auch schon davon die Rede gewesen, die ganze Kulturwissenschaftliche Abteilung zu pensionieren. Aber warum über den 7. Mai hinaus sorgen? Ist es denn so sicher, daß am 7. Mai noch die gleiche Regierung vorhanden ist? Der Vergleich mit den Jakobinern ist jetzt beliebt. Warum sollen die deutschen Jakobiner länger leben, als die französischen lebten?
    So lebe ich unter dumpfem Druck von Tag zu Tag. Das Studium zum 18. Jahrhundert schleicht weiter; manchmal sehe ich einEtwas davon klar vor mir; Augenblicke lang glaube ich, das Buch wird geschrieben, und es wird sogar mein bestes Buch werden; zumeist ist mir so, als würde ich nie mehr zum Schreiben kommen. Übrigens nahmen mir die Wirtschaft (heizen, Frühstück etc. machen, die Katzen), Dölzschen, der Zahnarzt, zu dem ich Eva begleitete, das viele Vorlesen unendliche Zeit fort; wenn ich ein, zwei Stunden täglich zum 18 e komme, ist es viel. Auch hier zumeist dumpfe Wurstigkeit mit einigen Momenten der Verzweiflung und einigen der Hoffnung.
13. Juni, Mittwoch
    Ich habe vielerlei nachzuholen; alles Wesentliche dreht sich um dies eine, an dem man erstickt. Aber überall, oder fast überall, ist jetzt doch Hoffnungsschimmer. Es kann nicht mehr lange dauern.
    Scherners dick, herzlich, kindlich, verfressen wie je. Dabei in schlechter Vermögenslage, voller Haß auf die Kleinstadt und die sklavische Gebundenheit an ihre Apotheke. Er ist als »Jude« verschrien. Sie kamen Pfingstsonntag mittag zu uns, unmittelbar vom Hochamt in der Hofkirche. Sein erstes Wort, vor der Begrüßung, unten am Gittertor, strahlend: » Das geht nicht unter, das siegt, dem können sie nichts antun! Diese Fülle von Menschen, diese Hingegebenheit, dieser Glanz! Die Kirche, das Zentrum, Victor! …« Und Scherner ist aus dem Priesterseminar entlaufen! –
    Er erzählte: In Falkenstein darf man nicht beim »Juden« kaufen. Also fahren die Falkensteiner zum Juden nach Auerbach. Und die Auerbacher ihrerseits kaufen beim Falkensteiner Juden. Zu größeren Einkäufen aber fährt man aus den Nestern nach Plauen, wo ein jüdisches Kaufhaus größeren Umfangs ist. Trifft man sich dort, so hat man sich nicht gesehen. Stillschweigende Konvention.
    Am 12. 6. bei Annemarie in Heidenau, genauer auf der Veranda der Assistentenwohnung Dr. Dressels. Ähnliche Gespräche, ähnliche Stimmung. Übrigens ein wunderhübscher, stark alkoholischer Abend.
    Unser Volkskanzler war kürzlich zur »Reichstheaterwoche« in Dresden. Auf mehrere Tage. Vorschriftsmäßig hingen die ganze Woche über Wälder von Hakenkreuzfahnen in den Straßen, brachten die Zeitungen Artikel: »Das Erlebnis von Dresden« und so. Und: der Jubel der Hunderttausende und so. Aber die SA, soweit sie nicht aufmarschiert war, lag ständig in Bereitschaft (ich weiß es von meinem Studenten: »Die ganzen Tage im Kuglerheim!«), und der Führer erschien, verschwand, bewegte sich, schlief immerfort anderwärts und zu anderer Stunde, als offiziell angegeben war. Wie der Zar, wie ein Sultan und noch angstvoller.
14. Juli
    Die eigentliche Erlösung kam durch die Hausaffäre. Vor etwa zwei Monaten sah Ellen Wengler, die Schwester meines italienischen Lektors, auf einem Spaziergang unser Grundstück. Eva zeigte ihr den Garten, den Keller, klagte unser Leid. Einige Zeit danach ergab sich dies: Wenglers haben von ihrer verstorbenen englischen Mutter her Vermögen in England liegen. Ein neues Gesetz zwingt alle Deutschen, ihre Auslandswerte zu verkaufen; die Regierung nimmt die Devisen und zahlt sie in
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