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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Ungeheures geschehen ist. – Eva sagt: »Und solch einer Sklavenbande gehört man an.«
10. August, Freitag
    Sprache des 3. Reiches: Befehl, Hitler anzureden: »Mein Führer!« (Mon Colonel. Ganz französisch!)
21. August, Dienstag
    Die 5 Millionen Nein und Ungültig am 19. August gegen 38 Millionen Ja bedeuten ethisch sehr viel mehr als nur ein Neuntel des Ganzen. Es hat Mut und Besinnung dazu gehört. Man hat alle Wähler eingeschüchtert und betrunken mit Phrasen und Festlärm gemacht. Ein Drittel hat aus Angst, eines aus Betrunkenheit, eines aus Angst und Betrunkenheit ja gesagt. Eva und ich haben ihr Nein auch nur aus einer gewissen Verzweiflung und nicht ohne Furcht angekreuzt.
    Dennoch, trotz der moralischen Niederlage: Hitler ist unumschränkter Sieger, und ein Ende ist nicht abzusehen.
4. September, Dienstag
    Das Richtfest fand gestern, am 3. 9., statt. Eva sehr frisch, und ich sah doch, wie sehr ihr das am Herzen lag. Ich selber mehr beobachtend und sehr wehmütig. Neun Arbeiter, darunter der Mann unserer Aufwartefrau, diese, Frau Lehmann mit ihrem kleinen Mädel, die beiden Prätorius, Ellen Wengler, die »Blutspenderin«. Um drei kamen wir im Auto herauf mit einem Berg Kuchen und sehr vielem Kaffee.
    Birke (natürlich aus dem Wald »geholt«) mit weißroten Papierwimpeln oben. Die Leute arbeiteten noch. Keine Fahne. Ich hatte bestimmt: Wenn eine Fahne nötig befunden würde, dann jedenfalls schwarz-weiß-rot. Wir kletterten auf dem erzwungenen »deutschen« Dach herum.
    Schön geworden ist es, und das Ganze macht nun einen durchaus reputierlichen Eindruck.
11. September
    Sprache des 3. Reiches: Parteitag »der Treue« in Nürnberg. Proprio der Treue nach dem Aufstand. Immer mit Stirn dasGegenteil behaupten. Der Führer: Ordnung auf tausend Jahre . Wieder die phantastische Zahl. Wieder gegen »schwankenden Intellektualismus«. Rede am 10. 9.: Die Jugend »liebt die Eindeutigkeit und Entschlossenheit unsrer Führung und würde nicht verstehen, wenn plötzlich eine mumifizierte Vergangenheit mit Ansprüchen kommen wollte, die schon in der Sprache einer fremden Zeit entstammt, die heute nicht mehr geredet und verstanden wird.« (Motto meiner Studie!) – In einer andern Rede: »Deutsch sein heißt klar sein« als Wahlspruch herausgestellt. (Was ist ihm Klarheit? Primitivität! Ich variiere: Deutsch sein heißt Tier sein.)
    Goebbels’ Rede über Propaganda . Die Propaganda »darf nicht lügen«. Sie »muß schöpferisch sein«. – »Die Angst vor dem Volk ist das charakteristische Merkmal liberaler Staatsauffassung.« Wir treiben »aktive Massenbeeinflussung« und »auf längere Sicht eingestellte systematische Aufklärung eines Volkes als Ergänzung«. »Die Staatsmänner müssen zu gewissen Zeiten den Mut haben, auch Unpopuläres zu tun. Aber das Unpopuläre will rechtzeitig vorbereitet werden, und es muß in seiner Darstellung richtig formuliert sein, damit die Völker es verstehen …« (6. 9. 34). Am 8. 9.: »Wir müssen die Sprache sprechen, die das Volk versteht. Wer zum Volk reden will, muß, wie Martin Luther sagt, ›dem Volk aufs Maul schauen‹.«
    Der Führer »appelliert« wieder an die »heroischen Instinkte«. Die Unterführer betonen wieder: »Adolf Hitler ist Deutschland .«
14. September
    Sprache des 3. Reiches: Hitler sagte auch, als er zur Jugend in Nürnberg sprach: »Sie singen gemeinsame Lieder«. Alles zielt auf Übertäubung des Individuums im Kollektivismus. – Ganz allgemein Rolle des Radio beachten! Nicht wie andere technische Errungenschaften: neue Stoffe, neue Philosophie. Sondern: neuer Stil . Gedrucktes verdrängt. Oratorisch , mündlich. Primitiv – auf höherer Stufe!
29. September, Sonnabend abend
    Seit halb sechs auf. Von halb acht bis gegen vier haben die Packer hier gehaust, und jetzt sieht es wüst aus. Montag soll dann umgezogen werden – und oben war gestern auch noch ein Chaos.
    Im Januar 28 zogen wir hier ein. Die letzten Jahre waren sehr bitter. Zu Evas Geburtstag 1932 kaufte ich das Land, April 33 wurde es umgepflügt und umzäunt, März 34 bauten wir den Keller, der jetzt Möbelspeicher wird, ohne Hoffnung und Möglichkeit des Weiterbauens. Am 29. Juni, an unserm Hochzeitstag nach dreißig Jahren, schloß ich den 12 000 M-Vertrag mit Ellen Wengler, Ende Juli begann der Bau.
    Gestern abend war ich so obenauf, daß ich dem Chauffeur, der sich als Fahrlehrer entpuppte, das Versprechen gab, im Frühjahr bei ihm Unterricht zu nehmen (das ist jetzt sehr billig
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