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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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nun gestern der Triumph veröffentlicht wurde: 93 Prozent Stimmen für Hitler! 40½ Millionen »Ja«, 2 Millionen »Nein« – 39½ Millionen für den Reichstag, 3½ Millionen »ungültig« – da war ich niedergeschlagen, da glaubte ich das beinahe auch und hielt es für Wahrheit. Und seitdem heißt es in allen Tonarten: das Ausland erkennt diese »Wahl« an, es sieht »ganz Deutschland« hinter Hitler, es rechnet mit Deutschlands Einigkeit, bewundert sie, wird ihr entgegenkommen etc. etc. Das alles macht mich nun auch besoffen, ich fange auch an, an die Macht und die Dauer Hitlers zu glauben. Es ist gräßlich. – Dabei heißt es »aus London«: Man bewundere besonders, daß selbst in denKonzentrationslagern zumeist mit »Ja« gestimmt worden sei. Das ist doch fraglos entweder Fälschung oder Erpressung. Aber was hilft das rationale »Fraglos«? Wenn ich etwas überall lesen und hören muß, drängt es sich mir auf. Und wenn ich mich kaum vor dem Glauben hüten kann – wie sollen sich Millionen naiverer Menschen davor hüten? Und wenn sie glauben, so sind sie eben für Hitler gewonnen, und die Macht und die Herrlichkeit ist wirklich sein.
    Gusti Wieghardt erzählte mir neulich, es sei ihr ein Reklameheft für irgendwelche Elektroartikel zugeschickt worden. Zwischen dem Reklametext habe ein kommunistischer Artikel gestanden. Um eines ähnlichen Schmuggels willen – Reklameheft für Chaplin – ist neulich einen Tag lang das »Capitol«-Kino polizeilich geschlossen gewesen. – Aber was helfen solche Nadelstiche? Weniger als nichts. Denn ganz Deutschland zieht Hitler den Kommunisten vor. Und ich sehe keinen Unterschied zwischen beiden Bewegungen; beide sind sie materialistisch und führen in Sklaverei.
23. Dezember
    Seit drei Tagen Frostende und allmähliche Erleichterung im Hause. Aber nach wie vor ist Eva deprimiert und wenig bewegungsfähig. An Arbeit vermag ich noch nicht zu denken, die Wirtschaft verschlingt mich. Gestern wegen notwendiger Einkäufe mit Eva im Auto in die Stadt und zurück; es bekam Eva sehr schlecht.
    Zum Abend waren zum Abschied Dembers bei uns. Ihr Geld vom Hausverkauf liegt auf Sperrkonto, 25 Prozent davon sollen sie Reichsflucht-Vermögenssteuer zahlen, ein paar Tage lang mußten sie sich täglich zweimal bei der Polizei melden. Dann wurde am Abend zehn Uhr Emita Anfang der Woche verhaftet: Denunziation wegen unbedachter Äußerungen … Verhör bis drei Uhr nachts, zwei Nächte in einer Zelle des Polizeipräsidiums, Überführung im grünen Wagen zum Gerichtsgefängnis Münchner Platz, dort noch ein paar Stunden Ungewißheit und Zelle,dann Entlassung. Sie schilderte die seelische Not der Gefangenschaft und Unsicherheit sehr ausführlich und anschaulich.
31. Dezember, Sonntag
    Im letzten Jahr hat Gusti mehrfach ihre völlige Unzurechnungsfähigkeit und Verranntheit und Maßlosigkeit im Politischen bewiesen. Ich habe demgegenüber immer wieder betont, daß ich im letzten Nationalsozialismus und Kommunismus gleichsetze: beide sind materialistisch und tyrannisch, beide mißachten und negieren die Freiheit des Geistes und des Individuums.
    Dies ist das charakteristischste Faktum des abgelaufenen Jahres, daß ich mich von zwei nahen Freunden trennen mußte, von Thieme, weil Nationalsozialist, von Gusti Wieghardt, weil sie Kommunistin wurde. Beide sind damit nicht einer politischen Partei beigetreten, sondern ihrer Menschenwürde verlustig gegangen.
    Ereignisse des Jahres: das politische Unglück seit dem 30. Januar, das uns persönlich immer härter in Mitleidenschaft zog.
    Evas sehr schlechter Gesundheits- und Gemütszustand.
    Der verzweifelte Kampf um das Haus.
    Der Fortfall aller Publikationsmöglichkeit.
    Die Vereinsamung.
    Im Juni schloß ich mein »Frankreichbild« ab, das nicht mehr veröffentlicht wurde. Dann noch ein paar Rezensionen, insbesondere Naigeon, nicht mehr publiziert, seit dem Juli Studien zum 18. Jahrhundert. Ich glaube nicht mehr, daß mein 18. Jahrhundert je zustande kommt. Ich habe nicht mehr den Mut, ein so Großes zu schreiben. Meine früheren Bände erscheinen mir leichtfertig und oberflächlich. Ist das Folge einer vorübergehenden Lähmung, ist es endgiltiges Fertigsein? Ich weiß es wirklich nicht.
    Sehr, sehr viel vorgelesen. Amerikaner, Deutsche, in letzter Zeit auch 18. Jahrhundert.
    Sehr viele Todesgedanken und Haften an den allgemeinsten Fragen. Bisher erschien mir Renans »Tout est possible, même Dieu« als ein spöttisches Witzwort. Ich nehme es jetzt
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