Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
Vom Netzwerk:
schon von dem ganz christlichen, ganz nationalen jungen Köhler: Die Franzosen werden uns befreien.Und ich glaube wirklich, sie werden bald kommen und werden von vielen, auch von »Ariern«, als Befreier begrüßt werden. –
    Bei alledem wird eben in Dölzschen unser Zaun fertig, wir planen Weiteres – aber es ist ganz unmöglich, eine wirkliche Behausung zu erhoffen, es fehlt eben an Geld und Kredit. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter. Auch in diesem Punkt drängt es zur Katastrophe.
    Das Schicksal der Hitlerbewegung liegt fraglos in der Judensache. Ich begreife nicht, warum sie diesen Programmpunkt so zentral gestellt haben. An ihm gehen sie zugrunde. Wir aber wahrscheinlich mit ihnen.
15. Mai, Montag abend
    Annemarie fürchtet für ihre Stellung, weil sie sich weigerte, am Festzug des 1. Mai teilzunehmen. Sie (die ganz Deutschnationale) erzählt: Einem Heidenauer Kommunisten gräbt man den Garten um, dort solle ein Maschinengewehr liegen. Er leugnet, man findet nichts; um ein Geständnis zu erpressen, prügelt man ihn zu Tode. Die Leiche ins Krankenhaus. Stiefelspuren im Bauch, faustgroße Löcher im Rücken, Wattebäusche dreingestopft. Offizieller Sektionsbefund: Todesursache Ruhr, was vorzeitige »Leichenflecke« häufig zur Folge habe. –
    Greuelnachrichten sind Lügen und werden schwer bestraft. –
    Von den Schand- und Wahnsinnstaten der Nationalsozialisten notiere ich bloß, was mich irgendwie persönlich tangiert. Alles andere ist ja in den Zeitungen nachzulesen. Die Stimmung dieser Zeit, das Warten, das Sichbesuchen, das Tagezählen, die Gehemmtheit in Telefonieren und Korrespondieren, das zwischen den Zeilen der unterdrückten Zeitungen Lesen – alles das wäre einmal in Memoiren festzuhalten. Aber mein Leben geht zu Ende, und diese Memoiren werden nie geschrieben werden.
22. Mai, Montag
    Der 16. 5. ging diesmal sehr trübe vorüber. – Eva ist jetzt so völlig mit ihren Nerven zu Ende, daß auch ich kaum noch standhalte: Mein Herz versagt immer mehr.
    Grausamer Witz, von Dembers kolportiert: der Palästina-Einwanderer werde gefragt: »Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?«
    Hausangelegenheit hoffnungslos. Sie bringt Eva und mich buchstäblich ins Grab.
    Seit Hitlers Friedensrede und der außenpolitischen Entspannung habe ich alle Hoffnung verloren, das Ende dieses Zustandes zu erleben.
20. Juli, Donnerstag
    Politische Lage trostlos. Es wäre denn ein Trost oder eine Hoffnung, daß sich die Tyrannei immer wilder, d. h. immer selbstunsicherer äußert: die Feier am Grabe der »Rathenau-Beseitiger«; der Befehl an alle Beamten (und so auch an mich), mindestens im Dienst und an der Dienststelle den »deutschen Hitlergruß« zu benutzen. Erweiterung: »Es wird erwartet«, daß man auch sonst diesen Gruß anwende, wenn man den Verdacht bewußter Ablehnung des neuen Systems vermeiden wolle (Geßlerhut redivivus). Eine Tonfilm-Aufnahme Hitlers, wenige Sätze vor großer Versammlung – geballte Faust, verzerrtes Gesicht, wildes Schreien – »am 30. Januar haben sie noch über mich gelacht, es soll ihnen vergehen, das Lachen …« Es scheint, vielleicht ist er im Augenblick allmächtig – das aber war Ton und Gebärde ohnmächtiger Wut. Zweifel an seiner Allmacht? Spricht man immerfort von Jahrtausenddauer und vernichteten Gegnern, wenn man dieser Dauer und Vernichtung sicher ist? – Meine beste Schülerin nach wie vor, und nach wie vor mir besonders anhänglich, Eva Theißig und immer mit dem Hakenkreuz als Schlipsnadel oder auf der Brust.
28. Juli, Freitag morgen
    Ich habe gar keine Ruhe mehr zum Tagebuchschreiben. A quoi bon? Ich werde zu irgendwelchen Memoiren doch nicht kommen; ob man in vier, fünf Jahren ein Heft mehr oder weniger verbrennt – à quoi bon? Und doch reizt mich die Idee der Memoiren immer stärker.
10. August, Donnerstag
    Ich will, wenn auch in Abbreviatur, mein Tagebuch so weiterführen, als ob mir noch Zeit bliebe, einmal die geplante Vita zu schreiben. Ich will am 18 e siècle so arbeiten, als ob mir noch Zeit bliebe, es einmal zu schreiben. Vielleicht komme ich doch über die jetzige Depression hinweg, habe ich doch noch ein Dutzend Jahre vor mir. Vielleicht wird aus Eva doch noch einmal wieder ein gesunder und froherer Mensch. Jedenfalls hat untätiges Verzweifeln gar keinen Zweck. Aber ich warte qualvoller von Tag zu Tag, als ich in meinen jungen Jahren gewartet habe.
19. August, Sonnabend
    Ich will mir jetzt immer kurz notieren, was mir zu meiner Vita
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher