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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Dazwischen geschlossene Läden,SA-Leute davor mit dreieckigen Schildern: »Wer beim Juden kauft, fördert den Auslandboykott und zerstört die deutsche Wirtschaft.« – Die Menschen strömten durch die Prager Straße und sahen sich das an. Das war der Boykott. »Vorläufig nur Sonnabend – dann Pause bis Mittwoch.« Banken ausgenommen. Anwälte, Ärzte einbegriffen. Nach einem Tage abgeblasen – der Erfolg sei da und Deutschland »großmütig«. Aber in Wahrheit ein unsinniges Schwanken. Offenbar Widerstand im Aus- und Inland, und offenbar von der anderen Seite Druck der nationalsozialistischen Straße. Ich habe den Eindruck, daß man rasch der Katastrophe zutreibt. Eine Explosion wird kommen – aber wir werden sie vielleicht mit dem Leben bezahlen, wir Juden. Entsetzlich ein Pronunciamento der Dresdener Studentenschaft, es sei gegen die Ehre der deutschen Studenten, mit Juden in Berührung zu treten. – Ich kann nicht an meinem »Frankreichbild« arbeiten. Ich glaube nicht mehr an die Völkerpsychologie. Alles, was ich für undeutsch gehalten habe, Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles das floriert hier. –
10. April, Montag
    Die entsetzliche Stimmung des »Hurra, ich lebe«. Das neue Beamten-»Gesetz« läßt mich als Frontkämpfer im Amt – wahrscheinlich wenigstens und vorläufig (übrigens bleiben auch Dember und Blumenfeld verschont – wahrscheinlich wenigstens). Aber ringsum Hetze, Elend, zitternde Angst. Ein Vetter Dembers, Arzt in Berlin, aus der Sprechstunde geholt, im Hemd und schwer mißhandelt ins Humboldtkrankenhaus gebracht, dort, 45 Jahre alt, gestorben. Frau Dember erzählt es uns flüsternd bei geschlossener Tür. Sie verbreitet damit ja »Greuelnachrichten«, unwahre natürlich.
    Wir sind jetzt des öftern oben. Unser »Acker« soll jetzt seinen Zaun erhalten, wir haben sieben Kirschbäume bestellt und zehn Stachelbeersträucher. Ich zwinge mich so leidenschaftlich zu tun, als ob ich an den Hausbau glaube, daß ich mir auf Couésche Art ein bißchen Glauben einzwinge und derart Evas Stimmung zu stützen vermag. Aber es geht nicht immer, und es steht schlecht um Eva, der die politische Katastrophe furchtbar nahegeht. (Manchmal, auf Augenblicke, habe ich aber fast die Empfindung, als wenn der große allgemeine Haß sie ein wenig über die Verranntheit in ihr Einzelleiden erhöbe, als wenn er ihr Momente neuen Lebenswillens gebe. Es ist etwas da, wovor sie nicht kapitulieren und das sie überleben will.)
    Von meinen Angehörigen höre ich nichts, nichts von Meyerhofs. Niemand wagt zu schreiben. – Auch sonst keine Post, beruflich bin ich matt gesetzt.
    Man ist artfremd oder Jude bei 25 Prozent jüdischen Blutes, wenn ein Teil der Großeltern Jude war. Wie im Spanien des 15. Jahrhunderts, aber damals ging es um den Glauben. Heute ist es Zoologie + Geschäft.
20. April, Donnerstag abend
    Ist es die Suggestion der ungeheuren Propaganda – Film, Radio, Zeitungen, Flaggen, immer neue Feste (heute der Volksfeiertag, Adolfs des Führers Geburtstag)? Oder ist es die zitternde Sklavenangst ringsum? Ich glaube jetzt fast, daß ich das Ende dieser Tyrannei nicht mehr erlebe. Und ich bin fast schon an den Zustand der Rechtlosigkeit gewöhnt. lch bin schon nicht Deutscher und Arier, sondern Jude und muß dankbar sein, wenn man mich am Leben läßt. – Genial verstehen sie sich auf die Reklame. Wir sahen vorgestern (und hörten) im Film, wie Hitler den großen Appell abhält: Die Masse der SA-Leute vor ihm, das halbe Dutzend Mikrophone vor seinem Pult, das seine Worte an 600 000 SA-Leute im ganzen Dritten Reich weitergibt – man sieht seine Allmacht und duckt sich. Und immer das Horst-Wessel-Lied. Und alles kuscht.
25. April, Dienstag
    Da Telefonieren unsicher, und da alles in Not und Sorge, so haben wir ständig nervenzerrüttenden Vormittags- oder Nachmittagsbesuch. – Der preußische Unterrichtsminister hat angeordnet, daß unversetzte Schüler, wenn sie der Hitlerbewegung angehören, nach Möglichkeit – die Klassenkonferenz entscheide weitherzig! – doch noch versetzt werden. – Anschlag am Studentenhaus (ähnlich an allen Universitäten): »Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er«, er darf nur noch hebräisch schreiben. Jüdische Bücher in deutscher Sprache müssen als »Übersetzungen« gekennzeichnet werden. – Ich notiere nur das Gräßlichste, nur Bruchstücke des Wahnsinns, in den wir immerfort eingetaucht sind. – Ich hörte es nun
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