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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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verhielten sich nicht alle ihm gegenüber feindselig. Zuweilen wurde er sogar auf offener Straße von fremden Menschen gegrüßt, gerade weil er den gelben Stern trug. Doch daswaren Ausnahmen, kleine, stille Akte des Widerstandes, die ihn nur für einen Moment ermutigen konnten.
    Schon 1933, nach den ersten antisemitischen Übergriffen, hatte er sich »maßlos« darüber geärgert, »dass Deutschland derart alles Recht und alle Kultur schändet«. Dieses Deutschland, das Klemperer geradezu heilig gewesen war, offenbarte plötzlich eine dramatische Schattenseite: »Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschiedenen Nationalitäten«, so heißt es im selben Jahr, »sind ins Wackeln geraten wie die Zähne eines alten Mannes.«
    Aber das war ja nur der Anfang: Judenboykott, Berufsverbote, Nürnberger Gesetze – Schikanen ohne Ende. »Es ist im deutschen Volk soviel Lethargie und soviel Unsittlichkeit und vor allem soviel Dummheit«, schrieb er 1937. Was also war Klemperers Konsequenz? »Mein Deutschtum wird mir niemand nehmen,« so notierte er am 9.Oktober 1938, vier Wochen vor dem November-Pogrom, »aber mein Nationalismus und Patriotismus ist hin für immer. Mein Denken ist jetzt ganz und gar das voltairisch kosmopolitische. Jede nationale Umgrenzung erscheint mir als Barbarei. Vereinigte Weltstaaten, vereinigte Weltwirtschaft.«
    Ein klarer, ein definitiver Standpunkt, so schien es zumindest. Doch wer jahrzehntelang nationalistisch geprägt worden war, rückte selbst in der Stunde der bittersten Erkenntnis nicht ganz von den alten Glaubenssätzen ab: »Ich bin deutsch, die anderen sind undeutsch; ich muss daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut«, so notierte er am 11. Mai 1942. Und zur Bekräftigung noch einmal, ein paar Wochen später: »Ich bin deutsch und warte, dass die Deutschen zurückkommen; sie sind irgendwo untergetaucht.«
    Mit dieser etwas überraschenden Wendung beeindruckt Klemperer vor allem seine national gestimmten Leser. »Sehr viel deutscher kann man nicht sein«, bescheinigte ihm Martin Walser 1995 in einer Rede zur posthumen Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Klemperer. Walser preist ihn, den Juden VictorKlemperer, für sein Bekenntnis zum Deutschtum und, implizit, auch für seine Abwendung von der jüdischen Herkunft. Zur Bestätigung zitiert er aus Klemperers Urteil über galizische Juden (»Hätte mir jemand gesagt, ich gehörte mehr zu ihnen als zu meinen deutschen Mitbürgern, ich hätte ihn für wahnsinnig gehalten«) und übernimmt seine – von Walser offenbar als Entlastung verstandene – Behauptung, dass der Antisemitismus durch die Aufklärung eigentlich »längst überwunden« sei.
    Walsers Scholl-Preis-Rede, im SPIEGEL 52/1995 dokumentiert, hat das Klemperer-Bild bis heute geprägt. »Die Nazis sind undeutsch«, zitiert Walser seinen Kronzeugen Klemperer – um damit jenen nationalen Traum zu retten, der doch gerade Klemperer zum Verhängnis geworden war. Nein, die Nazis waren leider sehr deutsch, sie waren nicht weniger deutsch, als es Luther, Hegel oder Beethoven waren. 1945 besaßen über acht Millionen Deutsche ein Mitgliedsbuch der NSDAP. Insofern war der Holocaust auch kein Betriebsunfall der deutschen Geschichte, sondern eine deutsche Möglichkeit, vielleicht keine zwangsläufige Folge des aggressiven deutschen Nationalismus, aber bestimmt auch keine zufällige.
    Seit 1871 beruhte dieser Nationalismus auf der Ausgrenzung von Minderheiten. Papsttreue Katholiken, Sozialdemokraten, Juden – sie alle wurden als Reichsfeinde und Vaterlandsverräter stigmatisiert und immer wieder bekämpft. Verzweifelt bemühten sich viele Außenseiter im Gegenzug um das Wohlwollen der protestantisch-preußischen Mehrheit. Spätestens 1933 war dieser Assimilationsprozess für die Juden gescheitert. Auch Klemperer kämpfte diesen lebenslangen Kampf um Anerkennung und begab sich damit doch nur in eine für ihn beinahe tödliche Falle. Er, der deutsche Gelehrte, lieferte noch Beweise seiner nationalen Treue, als die Nazis ihn längst vernichten wollten. Er verachtete die Ostjuden, er erklärte den Zionismus zu einer Variante des Rassismus. Und eine Auswanderung nach England oder Amerika lehnte er so lange ab, bis es zu spät dafür war. Außer Gefahr gebracht hätte ihn nur die Preisgabe des Vaterlandes, alsojener Kosmopolitismus, den er in seinen Tagebüchern einmal beschworen hatte, aber offenkundig halbherzig.
    Nach dem Krieg wurde sein Bedürfnis nach
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