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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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Zentimeter Entfernung zu. Ich bewege mich nicht. Sie zeigt auf ihre Uhr, das bedeutet, es ist spät, und sie will, dass ich reinkomme. Ich bleibe liegen. Ich mach einfach die Augen zu und wünsche, sie wäre nicht da. Ich bin noch nicht so weit.
    Wieder mein Lieblingslied – ich bin also seit neunzig Minuten hier drin –, und ich kneife die Augen noch fester zu und höre ihm zu. Seine Gitarre klingt drängend, seine Stimme zittert.
    Sein Herz ist gebrochen, das kann ich fühlen.

9
    Am nächsten Morgen klopft Dad ans Autofenster, um mich zu wecken. Ich habe mich mitten in der Nacht noch einmal aus dem Haus geschlichen und hier geschlafen.
    »Ich habe eine Überraschung für dich.« Er strahlt, seine Stimme wird durch die Scheibe gedämpft. »Sie ist um die Ecke.«
    »Was ist es?« Ich bin so müde, ich kann kaum sprechen.
    »Komm und sieh es dir an«, singt er mehr als er spricht.
    Ich muss mir die Zähne putzen.
    Dad bedeckt meine Augen mit seiner Hand und führt mich auf die andere Seite des Autos. Unter meinen dünnen Sohlen fühle ich die Kieselsteine von der Auffahrt, die Steinplatten, die im Gras rings ums Haus führen, und schließlich das Gras. Wir sind hinten im Garten. Unser Haus ist eigentlich nichts Besonderes. Wie die meisten Häuser in Los Cerros ist es groß, neu und schmucklos, aber unseren Garten liebe ich. Es gibt einen Pfad, der sich durch die Gemüse- und Blumenbeete schlängelt; und an den Wochenenden wühlen meine Eltern hier stundenlang in der Erde rum. Das Beste daran ist: Wenn man mit dem Rücken zum Haus steht, kann man nicht erkennen, wo der Garten endet. Er erstreckt sich über viele tausend Quadratmeter hügeliges Land mit einem Wäldchen aus uralten Eichen.
    Dad nimmt die Hand weg und weist auf einen Riesenhaufen Holz auf dem Ziegelboden des Patios, der das Haus vom Garten trennt. Es sind lauter dicke Bretter, mindestens drei Meter lang. Dad steht vor diesem riesigen Stapel und lächelt ganz stolz, als hätte er mir gerade ein Strandhaus auf den Fidschi-Inseln gekauft, zusammen mit einem Privatjet, der mich dort hinbringen soll.
    »Holz«, sage ich verdattert.
    »Es ist bereits gehobelt. Ich hab dir auch eine super Säge gekauft. Die kommt aber erst am Montag.«
    »Und was soll ich damit tun?«
    Er zuckt die Achseln. »Keine Ahnung. Du bist die Fachfrau.«
    Meine Eltern haben diese bescheuerte Idee, dass ich gut schreinern kann, weil ich ein einziges Mal bei einem Kunstgewerbe-Sommercamp mitgemacht und eine kleine Trittleiter aus Holz gebaut habe, die man sogar benutzen konnte.
    »Das ist doch tausend Jahre her«, erinnere ich ihn. »Damals war ich zwölf.«
    »Ich bin sicher, dass du den Dreh bald wieder raushast.«
    »Das ist eine Menge Holz.«
    »Wenn du mehr brauchst, sag Bescheid. Du sollst richtig aus dem Vollen schöpfen können.«
    Ich kann nur mit dem Kopf nicken, auf und ab, auf und ab. Ich weiß, was da läuft. Ich hab ja gehört, dass meine Eltern sich Sorgen um mich machen. Ich weiß, dass das hier eine Art alternative Therapie sein soll. Dad denkt, es ist ein tolles Geschenk, das mich von meinem beschissenen Leben ablenken wird.
    Er steht da, sieht mich hoffnungsvoll an und wartet auf meine Reaktion. Schließlich geh ich zu dem Stapel und lasse meine Finger über eins der oberen Bretter gleiten. Ich klopfe gegen das Holz. Ich fühle, wie Dad mich beobachtet. Ich sehe hoch und ringe mir ein Lächeln ab.
    »Toll«, sagt er, als wäre etwas entschieden worden.
    »Ja«, erwidere ich, als ob ich es kapiert hätte.

10
    Der Tag, als Ingrid und ich zum ersten Mal Schule schwänzten, war grau und kalt. Wir sind in der Mittagspause abgehauen, und ich war sicher, irgendwer würde uns erwischen. Aber niemand merkte was.
    Als wir dann außer Sichtweite waren, liefen wir eine Straße hoch, wo die Wohnblocks dicht aneinandergequetscht stehen und jeder jedem ins Schlafzimmer kucken kann. Es war sehr still.
    Bistro oder Mall?,
fragte Ingrid.
    Zu viele Leute in der Mall.
Ich kickte einen Stein aus dem Weg und sah, wie Staub aufwirbelte.
    Oben angekommen rannte Ingrid in die Mitte der menschenleeren Straße. Sie drehte sich zu mir um, ihre Locken wehten ihr ins Gesicht, und sie hob die Arme, bis sie rechtwinklig von ihrem Körper abstanden. Sie fing an sich zu drehen. Ihr roter Rock blähte sich. Der Wind nahm zu, und sie drehte sich so schnell, dass sie zu einem verschwommenen Farbfleck wurde. Als sie aufhörte, kauerte sie sich hin.
    Du meine Güte.
Sie lachte.
Du meine Güte, mein
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