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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf...
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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spucken. Das ist idiotisch, aber es würde mich erleichtern.
    Er ist blaß, wirkt krank. Ich weiß, daß
ihn die Mithäftlinge im Gefängnis verprügelt haben. Vergewaltiger und
Blutschänder haben kein leichtes Leben im Knast. Sie sind immer die
Prügelknaben der anderen.
    Mit seinem unbewegten, verschlossenen
Gesicht, dem komischen Vogelkopf mit den schmalen, schnabelähnlichen Lippen,
kommt er mir in seinem engen grauen Anzug kleiner als gewöhnlich vor.
    Seit er im Gefängnis ist, seit fast
sechs Monaten, streitet er alles ab. Er leugnet und leugnet und leugnet. Es
liegt also an mir, seine Schuld zu beweisen.
    Man läßt ihn sehr schnell durch eine
kleine Tür eintreten.
    Ich sitze allein auf einer Bank aus
glattem Holz in dem holzgetäfelten Saal. Wir warten auf die Richter.
    Für ein paar Augenblicke habe ich Bruno
gesehen. Er ist als Zeuge vorgeladen worden. Wir haben uns seit dem Bruch, den
ich gewünscht habe, nicht wiedergesehen. Trotzdem fehlt er mir. Das würde ich
ihm gerne sagen. Lieben ist schwierig. Ich fühle mich verloren in einem
Labyrinth, ich stehe an dem einen Ende, er am anderen, und zwischen uns ist
dieser höllische Wirrwarr, liegen diese fünf Jahre Terror und Unterjochung.
    Der Präsident nimmt Platz, der Saal
erhebt sich, um das Erscheinen der Justiz zu begrüßen.
    Aufruf der Geschworenen. Diejenigen,
die abgelehnt werden, verlassen den Saal, die anderen nehmen Platz. Alle Zeugen
müssen hinausgehen. Sogar meine Mutter. Man nimmt mir meine Mutter fort. Man
läßt mich mit meiner Panik allein.
    Ich weiß, daß dieses Heraufbeschwören
des Prozesses etwas unbeholfen ausfallen wird, denn ich habe ihn fast unbewußt
erlebt. Es war zu schlimm, zu widerwärtig und noch einmal saß auf dieser Bank
die eine Nathalie mit den Alpträumen. Die andere war irgendwo anders, sie nahm
kaum wahr, was um sie herum vorging, verstand wenig, sie kam herein, ging
hinaus, weinte auf dem Flur, schluckte eine Beruhigungstablette, trank ein Glas
Wasser, ging in die Kampfstätte zurück, war anscheinend lebendig, in
Wirklichkeit aber tot. Mein Körper war anwesend, nicht ich.
    Allein mit der Zeugenparade der
Verteidigung, die als erste vor den Schranken des Gerichts erscheint. »Seine«
Familie, »seine« Freunde, die lügen werden. Ihn unterstützen, mit erhobener
Hand schwören, daß er fleißig, ein guter Familienvater, ein vorbildlicher
Ehemann ist...
    Von da an verliere ich den Faden.
Natürlich höre ich Sätze von der Art: »Es ist die Schuld ihrer Mutter, sie
zwingt sie dazu, um die Scheidung zu gewinnen.« Oder auch: »Mein Bruder benimmt
sich mustergültig, er hat sich für seine Familie und seine Kinder vollkommen
aufgeopfert.« Und auch das: »Wenn so etwas passiert wäre, dann nur mit ihrem
Einverständnis!«
    Ich, die Nutte. Natürlich erklärte sie
sich mit zwölf Jahren einverstanden... Und ob...
    Der Psychiater erklärt, daß der
Angeklagte eine »prinzipienstrenge« Persönlichkeit besitzt, aber nicht verrückt
ist. Die prinzipienstrenge Persönlichkeit beklagt sich, daß sie nur zehn
Minuten lang untersucht worden sei.
    Das stimmt ganz offensichtlich nicht,
aber er hält daran fest. Hat er vielleicht Angst, nicht verrückt zu sein?
    All das ekelt mich an. Manchmal melde
ich mich mit lauter Stimme zu Wort, um etwas richtigzustellen, aber dazu habe
ich kein Recht, ich habe zu schweigen, der Präsident, mein Rechtsanwalt
ebenfalls. Man muß unerschütterlich und schweigsam sein können.
    Nach dieser Lügenparade teilt man mir
mit, die Zeugen hätten nichts Konkretes zur Verteidigung beigetragen. Lauter
Nullen. Niemand hat ihnen geglaubt. Sie haben sich so ungeschickt in ihre
Aussagen verstrickt, daß sie fast wie Zeugen der Anklage wirkten. Eine Frau hat
sogar die linke Hand zum Schwur erhoben und bringt den Saal zum Lachen.
    Was tue ich hier?
    Alles verschwimmt, eine Menge Dinge
kommen mir spanisch vor, auch die Justiz. Warum hat er das Recht, zu sprechen
und alle Augenblicke dreinzureden, und ich nicht?
    Er ist in eine ungewöhnliche Ruhe
verfallen, hat eine passive Haltung eingenommen, spricht mit leiser, kaum
hörbarer Stimme. Sein Anwalt, der zweite (der erste hat ihn fallenlassen),
wirkt nicht einmal überzeugt.
    Mittagspause. Auf dem Gerichtshof. Ich
irre herum, kaue an einem Sandwich, zu viele Leute reden auf mich ein, als daß
ich zum Nachdenken käme.
    Ich hatte doch gehofft, einen
außergewöhnlichen Tag zu erleben. Die große Revanche. Aber es ereignet sich
nichts Besonderes.
    Das
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