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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf...
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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willig und imstande gewesen wären, sich
für das Kind einzusetzen und es aus dem Horror zu retten, wenn sie nur die
ganze Wahrheit gekannt hätten. Aber genau das durften sie nicht erfahren. Und
sie wußten nicht, daß es an ihnen gelegen hätte, dieses Tabu zu durchbrechen,
um nicht Unmenschlichkeit zu tolerieren. Ein einziger »wissender Zeuge« (Vgl. Das
verbannte Wissen, 1988) hätte genügt, um das Kind und seine Zukunft zu
retten.
    Weshalb hat die Tochter bei niemandem
Rettung gesucht? Weshalb hat sie nie versucht, davonzulaufen, sich jemandem
anzuvertrauen, nach Hilfe zu schreien? Weshalb schwieg sie fünf Jahre lang wie
ein Grab und tat alles, um die Wahrheit zu verheimlichen? Aus Angst, aus Scham
und aus der Unkenntnis der Rechtslage. Aus Angst vor weiteren Schlägen? Nein,
die hatte sie ja ohnehin zu gewärtigen, sie wurde geschlagen, ohne daß sie
etwas tat. Denn das Schlagen gehörte zum perversen Ritual des Vaters. Aber sie
hatte Angst, ihre Mutter umzubringen. Sie zweifelte nicht einen Moment an den
Worten des Vaters, der ihr sagte, daß sich die Mutter das Leben nehmen würde,
wenn sie alles erführe. Sie liebte ihre Mutter und wollte sie um keinen Preis
verlieren. Also schonte sie sie auf Kosten ihrer eigenen Seele, ihrer Kindheit,
ihrer Zukunft. Auch fürchtete sie, begreiflicherweise, daß ihr die Mutter nicht
glauben würde. Es ist nicht leicht, an so viel Unehrlichkeit, Gemeinheit und
Niedertracht im eigenen Haus zu glauben. Alles in uns wehrt sich dagegen. Wie
soll man den Gedanken ertragen, daß man Jahrzehnte lang neben einem Monster
schlief, einem Monster, das sich nach außen wie ein braver, rechtschaffener
Bürger verhielt und von allen Kunden und Bekannten geschätzt wurde? Die
Versuchung liegt nahe, das Kind wegen der Komplizenschaft anzuklagen, es der
Lüge zu beschuldigen und es zu beschämen. Nathalie ahnte dies und schwieg.
Anstatt die Mutter mit der Wahrheit zu konfrontieren und eine Katastrophe (in
ihren Augen) zu provozieren, opferte sie sich, um das sehr fragwürdige
Gleichgewicht der Mutter zu retten. Sie überließ die Mutter ihrer
Selbsttäuschung, ihrer Depression und ihren Schlaftabletten und wußte nicht,
daß sie ihr mit der Wahrheit hätte eher helfen können.
    Nathalie allein kannte die volle
Wahrheit. Sie allein wagte es, der qualvollen Wahrheit ins Gesicht zu schauen,
zu sehen, wie der Vater wirklich war. Das ist nicht selbstverständlich. Viele
Opfer ertragen diese Wahrheit nicht und helfen sich mit Idealisierungen, mit
moralischen und religiösen Forderungen nach Verständnis und Verzeihung, weil
sie die Realität in ihrer Monstrosität nicht aushalten können. Sie fürchten,
die Scham, einen solchen Vater zu haben, würde sie umbringen. Nathalie ist
unbestechlich. Und der konsequente, berechtigte Haß hilft ihr, ihre Würde zu
erhalten, auf keinen Fall ihre echten, wahren Gefühle zu verleugnen. Aber zur
Mutter konnte sie leider nicht gehen. Sie konnte nicht wissen, wieviel Wahrheit
die Mutter ertragen würde. Erst als diese den Vater verließ und den Willen zur
Scheidung kundgab, konnte die Tochter sprechen, aber immer noch in Angst und
Scham und nicht bevor sie eine einfühlsame Cousine eingeweiht hatte, die sie
bei der Mutter schützte.
    Nathalie war es schließlich möglich,
ihre Würde auch nach außen herzustellen, indem sie das Verbrechen bewies und
ihren Verfolger anklagte. Sie hatte die erstaunliche Klarheit, Intelligenz,
innere Freiheit und Kraft, ihr Leid zu fühlen, es nicht zu verdrängen oder zu
bagatellisieren und daher das Verbrechen in vollem Ausmaß wahrzunehmen. Das
ermöglichte ihr, ein Buch zu schreiben, das wie wohl keines dieser Art,
zumindest unter denen, die ich kenne, anderen Jugendlichen helfen wird, sich in
ähnlichen Situationen zu orientieren, gegen das Unrecht zumindest innerlich zu
rebellieren und sich sein Recht auf Hilfe und Schutz zu verschaffen.
    Ich kann mir vorstellen, daß manche
Betroffenen, die Nathalie Schweighoffers Bericht gelesen haben, den Weg aus der
Falle finden werden. Wenn sich in ihrer Umgebung helfende oder gar wissende
Zeugen befinden, Menschen, die des Vertrauen würdig sind, werden sie es
vielleicht nach der Lektüre dieses Buches eher wagen, diese Menschen
anzusprechen, sich ihnen anzuvertrauen. Doch ein betrogenes, verratenes,
mißhandeltes Kind hat gewöhnlich große Schwierigkeiten, solche Menschen zu
erkennen. Es gerät immer wieder an solche, die sein Vertrauen nicht verdienen.
Daher muß die Initiative vom
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