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Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Titel: Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Augen, die immer fast aus den Höhlen springen, wenn sie voller Eifer den Hitler-Gruß macht, hat sich mir in den Weg gestellt.
    Sie drehte sich zum Rest der Klasse um und sagte: »Von heute an muss Marion Czarlinski in der letzten Reihe sitzen. Die vorderen Reihen sind für arische Mädchen bestimmt, nicht aber für Juden!«
    Lotte trat einen Schritt vor.
    Ich warf ihr einen warnenden Blick zu. Es war besser, wenn sie sich nicht einmischte.
    Ich war drauf und dran, zu protestieren und Frau Müller anzuschreien: »Ich habe das Recht , in der ersten Reihe zu sitzen, Frau Müller, weil ich Klassenbeste bin!«, doch noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, machte Frau Müller einen weiteren Schritt auf mich zu und ließ ihren Stock auf das Pult neben ihr niedersausen.
    »Nach hinten, Marion Czarlinski!«, befahl sie.
    Ich lief feuerrot an. Meine Knie begannen zu zittern und ich hätte mich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen.
    »Nach hinten, Marion Czarlinski!«, brüllte Frau Müller erneut, und weil ich mich nicht von der Stelle rührte, packte sie mich an den Schultern und schüttelte mich.
    Ich wurde ganz steif.
    Dann entzog ich mich Frau Müllers Händen und ging nach hinten, ohne nach links oder rechts zu blicken.
    Als ich mich auf einen leeren Stuhl in der letzten Reihe setzte, hörte ich meine Klassenkameradinnen tuscheln.
    Zum Glück wurden sie bald von Frau Müllers Stimme übertönt: »Schlagt eure Bücher auf, Kinder! Wir lesen Romeo und Julia zu Ende.«
    Auf einen Schlag fühlte ich mich etwas besser. Romeo. Romeo. So nannte ich Rolf insgeheim.
    Ich schlug mein Buch auf und konzentrierte mich auf die wunderschönen Worte und Sätze.
    Neben mir saß Gertrude Bolger, das arme Mädchen, das keinen Vater mehr hatte und das so arm war, dass meine Mutter sie aus Mitleid an den Wochenenden manchmal zum Essen einlud. Sie beugte sich zu mir und flüsterte: »Judenschwein!«
    Ich dachte an die Worte meines Vaters, der manchmal sagte: »Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin.«
    »Halte ihm auch die andere Wange hin, Marion. Und denk daran, dass der andere Mensch nur deshalb so böse zu dir ist, weil er Angst hat, unsicher oder dumm ist. Er ist vermutlich viel schlimmer dran als du und hat dein Mitleid verdient, nicht deinen Zorn.«
    Deshalb zuckte ich nicht mit der Wimper, sondern schwieg und starrte angestrengt in mein Buch.
    Zu Hause erzählte ich nichts von dem, was in der Schule passiert war.
    Aber meine Mutter muss es trotzdem erfahren haben, denn einige Tage darauf teilte sie mir mit, ich würde ab sofort in eine kleinere, schönere Schule gehen.
    »Es ist eine jüdische Schule, nur für Juden«, sagte sie.
    Immer wenn ich das Wort ›Juden‹ hörte, zuckte ich innerlich zusammen.
    Obwohl wir in der Weihnachtszeit Kerzen anzündeten und ich schon drei oder vier Mal in der Synagoge gewesen war, wusste ich nicht wirklich, was es bedeutete, Jüdin zu sein.
    Ich sah mich als Deutsche, sonst nichts.
    Im Bibelkurs hatten wir über die Schriftgelehrten gesprochen, die Sadduzäer, die Pharisäer und die Juden, aber ich begriff nicht, was die Juden mit mir zu tun hatten.
    »Eine Schule nur für Juden, Mama? Warum gibt es da keine Deutschen?«, fragte ich.
    Zum ersten Mal im Leben sah ich einen schmerzlichen Ausdruck über das Gesicht meiner Mutter huschen. Doch sie fasste sich rasch wieder.
    »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du lernst, Jüdin zu sein, Marion-Schatz«, antwortete sie.
    »Aber wir stellen doch trotzdem einen Weihnachtsbaum auf, Mama? Und es gibt Ostereier an Ostern, wie immer?«, fragte ich.
    Meine Mutter sagte nichts dazu.
    Die Jüdische Schule war eine Oase des Friedens in Grunewald. Wir hatten eine sehr nette Lehrerin, Lotte Kaliski, die erst dreiunddreißig Jahre alt war und das genaue Gegenteil von Frau Müller. Ich habe dort ein paar Worte Hebräisch gelernt und zusammen mit den anderen Kindern jüdische Volkslieder gesungen.
    Das kam mir damals so komisch vor, wie es dir heute vermutlich vorkommen würde, Anna.
    Doch ich gewöhnte mich rasch an die neue Schule, die neue Sprache und die neuen Lieder und Tänze, die wir lernten, und ich war bald wieder so unbeschwert und glücklich wie zuvor.
    Und Ende Oktober 1938 erfuhr ich eine wunderbare Neuigkeit …
    Liebes Tagebuch,
    ich bin schrecklich aufgeregt, denn ich darf für meine Schule an einem großen Schwimmwettbewerb teilnehmen! Und das am 1. November, Papas Geburtstag!
    Ich hoffe, dass es ein
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