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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski
Autoren: Daniel Kehlmann
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zahlen und verschwinden, und nahm mein letztes Bargeld. Ich beschleunigte, die Kraft des Motors drückte mich weich in den Sitz. Kaminski nahm seine Brille ab und spuckte wieder aus. Kurz darauf war er eingeschlafen.
    Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, sein Mund stand offen, man sah deutlich seine Bartstoppeln; beide hatten wir uns seit zwei Tagen nicht rasiert. Er begann zu schnarchen. Ich schaltete das Radio ein, ein Jazzpianist spielte immer schnellere Läufe, Kaminski schnarchte tiefer, ich drehte die Lautstärke auf. Gut, daß er jetzt schlief, heute nachmittag würde er nicht in ein Hotel kommen, wir würden sofort wieder zurückfahren. Ich würde Elke das Auto geben, würde, wenn sie wirklich darauf bestand, meine Koffer mitnehmen und Kaminski mit dem Zug nach Hause bringen. Ich hatte alles, was ich brauchte. Nur die zentrale Szene fehlte noch, die große Wiederbegegnung mit Therese in Gegenwart seines Freundes und Biographen.
    Ich schaltete das Radio aus. Die Mittellinien strömten uns entgegen, ich überholte zwei Lastwagen auf der rechten Seite. Das alles, dachte ich, war seine Geschichte. Er hatte sie erlebt, nun ging sie zu Ende, und ich war kein Teil davon. Sein Schnarchen stockte einen Moment, als hätte er meine Gedanken gelesen. Sein Leben. Und meines? Seine Geschichte. Hatte ich eine? Ein Mercedes fuhr so langsam, daß ich auf den Pannenstreifen ausweichen mußte; ich hupte, fuhr nach links und zwang ihn zum Abbremsen.
    »Aber irgendwo muß ich doch hin.«
    Hatte ich das laut gesagt? Ich schüttelte den Kopf. Doch es stimmte ja, irgendwohin mußte ich, und etwas mußte ich tun. Das war das Problem. Ich drückte meine Zigarette aus. Das war es immer gewesen. Die Landschaft hatte sich verändert, längst gab es keine Hügel mehr, auch die Dörfer und Wege verschwanden; mir war, als reisten wir in der Zeit zurück. Wir verließen die Autobahn, eine Weile fuhren wir durch Wald: Baumstämme und die verflochtenen Schatten der Äste. Dann kamen nur noch Schafwiesen.
    Wie lange hatte ich das Meer nicht gesehen? Überrascht bemerkte ich, daß ich mich darauf freute. Ich trat auf das Gaspedal, jemand hupte. Kaminski schreckte auf, sagte etwas auf französisch und schlief wieder ein, ein Speichelfaden hing ihm am Mundwinkel. Häuser aus rotem Backstein tauchten auf, und dort war schon das Ortsschild. Eine Frau überquerte hochaufgerichtet die Straße. Ich hielt, kurbelte das Fenster hinunter und fragte nach dem Weg. Mit einer Kopfbewegung wies sie mir die Richtung. Kaminski wachte auf, bekam einen Hustenanfall, schnappte nach Luft, wischte sich den Mund ab und fragte ruhig: »Sind wir da?«
    Wir fuhren zum letzten Straßenzug der Ortschaft. Die Nummern schienen ungeordnet, ich mußte die Straße zweimal in ihrer ganzen Länge abfahren, bis ich das richtige Haus fand. Ich hielt an.
    Ich stieg aus. Es war windig und kühl, und falls es keine Einbildung war, roch man die Nähe des Meeres.
    »War ich hier schon?« fragte Kaminski.
    »Wohl nicht.«
    Er drückte seinen Stock auf den Boden und versuchte aufzustehen. Er stöhnte. Ich ging um das Auto herum und half ihm. Ich hatte ihn noch nie so gesehen: Sein Mund war verzogen, seine Stirn zerfurcht, er sah erschrocken aus, beinahe ängstlich. Ich kniete mich hin und band seine Schuhbänder zu. Er leckte sich die Lippen, holte die Brille hervor und setzte sie umständlich auf.
    »Ich dachte damals, daß ich sterben würde.«
    Ich sah ihn überrascht an.
    »Und das wäre besser gewesen. Alles andere war falsch. Weitermachen, so tun, als gäbe es noch etwas. Als wäre man nicht tot. Es war so, wie sie geschrieben hat. Sie war immer klüger.«
    Ich öffnete meine Tasche und tastete nach dem Diktaphon.
    »Dieser Brief war eines Morgens da. Einfach so.«
    Mein Daumen berührte die Aufnahmetaste und drückte sie hinunter.
    »Und die Wohnung war leer. Sie haben so etwas nie kennengelernt.«
    Ob das Gerät durch die Tasche hindurch aufnahm? »Wieso glauben Sie, daß ich so etwas nie kennengelernt habe?«
    »Man meint, man hat ein Leben. Und plötzlich ist alles weg. Kunst bedeutet nichts. Alles Illusion. Und man weiß es und muß weitermachen.«
    »Gehen wir hinein«, sagte ich.
    Es war ein Haus wie die anderen: zwei Stockwerke, ein spitzes Dach, Fensterläden, ein kleiner Vorgarten. Die Sonne war nicht zu sehen, über den Himmel zogen durchscheinende Wolken. Kaminski atmete schwer, besorgt musterte ich ihn. Ich läutete.
    Wir warteten. Kaminskis Kiefer bewegten
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