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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski
Autoren: Daniel Kehlmann
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hatte den Eindruck, er spricht über nichts anderes. Ich nehme nicht an, daß du das gemerkt hast, aber er ist sehr aufgeregt.« Sie sah mich aufmerksam an. »Und überhaupt, was ist das für eine Idee?«
    »So hatte ich die Chance, mit ihm allein zu sein. Außerdem brauche ich die Szene für den Anfang des Buches. Oder den Schluß, das muß ich noch überlegen. Und so erfahre ich, was damals wirklich passiert ist.« Zum ersten Mal tat es mir gut, mit ihr zu reden. »Ich hätte nie gedacht, daß es so schwierig ist. Jeder sagt etwas anderes, das meiste ist vergessen, und alle widersprechen einander. Wie soll ich irgend etwas herausfinden?«
    »Vielleicht sollst du nicht.«
    »Nichts paßt zusammen. Er ist ganz anders, als er mir beschrieben wurde.«
    »Weil er alt ist, Bastian.«
    Ich rieb mir die Schläfen. »Du hast gesagt, daß ich vielleicht noch eine Chance hätte. Wie meinst du das?«
    »Frag ihn.«
    »Wieso ihn? Er ist völlig senil.«
    »Wenn du meinst.« Sie wandte sich ab.
    »Elke, soll es wirklich so enden?«
    »Ja, das soll es. Und es ist nicht tragisch, es ist nicht schlimm, es ist nicht einmal wirklich traurig. Entschuldige, ich hätte es dir lieber schonend beigebracht. Aber dann hätte ich dich nie hier herausbekommen.«
    »Das ist dein letztes Wort?«
    »Mein letztes Wort habe ich am Telefon gesagt. Das hier ist nur noch überflüssig. Bestell ein Taxi und fahr zum Bahnhof. In einer Stunde komme ich wieder, dann möchte ich, daß die Wohnung leer ist.«
    »Elke...!«
    »Ich muß sonst die Polizei rufen.«
    »Und Walter?«
    »Und Walter«, sagte sie und ging hinaus. Ich hörte sie leise mit Kaminski sprechen, dann fiel die Wohnungstür zu. Ich rieb mir die Augen, ging zum Wohnzimmertisch, nahm eine von Elkes Zigarettenpackungen und überlegte, ob ich versuchen sollte zu weinen. Ich zündete eine Zigarette an, legte sie in den Aschenbecher und sah zu, wie sie sich in Asche auflöste. Danach war mir besser.
    Ich ging zurück in die Küche. Kaminski hielt Bleistift und Schreibblock in den Händen. Er hatte den Kopf auf die Schulter gelegt und den Mund geöffnet; es sah aus, als träumte er oder hörte jemandem zu. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte ich, daß er zeichnete. Seine Hand glitt langsam über das Papier: Zeige-, Ring- und kleiner Finger waren weggestreckt, Daumen und Mittelfinger hielten den Stift. Er zog, ohne abzusetzen, eine Spirale, die hin und wieder, an scheinbar zufälligen Stellen, kleine Wellen schlug.
    »Machen wir uns auf den Weg?« fragte er.
    Ich setzte mich neben ihn. Seine Finger krümmten sich, in der Mitte des Blattes entstand ein Fleck. Er machte einige schnelle Striche aus dem Handgelenk, dann legte er den Block zur Seite. Erst als ich zum zweiten Mal hinsah, wurde der Fleck zu einem Stein und die Spirale zu den Kreisen, die dieser beim Aufschlagen auf ruhigem Wasser zog, Schaum spritzte, da war sogar die angedeutete Spiegelung eines Baumes.
    »Das ist gut«, sagte ich.
    »Das können sogar Sie.« Er riß das Blatt ab, steckte es ein und reichte mir Block und Bleistift. Seine Hand legte sich auf meine. »Stellen Sie sich etwas vor. Etwas ganz Einfaches.«
    Ich dachte an ein Haus, wie Kinder es zeichnen. Zwei Fenster, das Dach, der Schornstein und eine Tür. Unsere Hände bewegten sich. Ich sah ihn an: seine spitze Nase, seine hochgezogenen Brauen, ich hörte den Pfeifton seines Atems. Ich sah wieder auf das Papier. Da war schon das Dach, dünn schraffiert, wie von Schnee oder Efeu, dann eine Wand, ein Fensterladen stand offen, eine kleine Figur, geformt aus drei Strichen, beugte sich auf einen Arm gestützt heraus, nun die Tür, mir fiel ein, daß diese Zeichnung ein Original war, wenn ich ihn dazu bringen konnte, sie zu signieren, könnte ich sie teuer verkaufen, die Tür war schief geworden, die zweite Hauswand, davon würde ich mir ein Auto leisten können, traf das Dach nicht, der Bleistift sank an die untere Kante, etwas stimmte nicht mehr; Kaminski ließ los. »Na?«
    »Es geht«, sagte ich enttäuscht.
    »Fahren wir?«
    »Natürlich.«
    »Nehmen wir wieder den Zug?«
    »Den Zug?« Ich dachte nach. Der Autoschlüssel mußte noch in meiner Hosentasche sein, der Wagen stand dort, wo ich ihn gestern geparkt hatte. Elke würde erst in einer Stunde zurückkommen. »Nein, heute nicht.«

XII
    Ich entschied mich nun doch für die Autobahn. Der Mann an der Mautstelle lehnte meine Kreditkarte ab, ich fragte, welchen anständigen Beruf er schwänze, er antwortete, ich solle
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