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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski
Autoren: Daniel Kehlmann
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Buch, das... Ich schob den Bleistift zwischen meine Lippen. Jetzt mußte etwas Treffendes kommen. Ich stellte mir Bahrings Gesicht beim Lesen des Artikels vor, trotzdem fiel mir nichts ein. Es machte weniger Spaß, als ich erwartet hatte.
    Wahrscheinlich war ich einfach müde. Ich rieb mir das Kinn, die Stoppeln fühlten sich unangenehm an, ich mußte mich unbedingt rasieren. Ich legte den Bleistift weg und lehnte den Kopf an die Scheibe. Es begann zu regnen. Tropfen schlugen auf das Glas und zogen gegen die Fahrtrichtung davon. Ich blinzelte, der Regen wurde stärker, die Tropfen schienen im Zerplatzen Gesichter, Augen, Münder zu bilden, ich schloß die Augen, und während ich auf das Prasseln horchte, nickte ich ein: Für einige Sekunden wußte ich nicht, wo ich mich befand; mir war, als schwebte ich durch einen weiten, leeren Raum. Ich schlug die Augen auf: Über die Scheibe zog sich ein Wasserfilm, die Bäume neigten sich unter der Wucht des Regens. Ich schloß den Block und steckte ihn ein. Mir fiel auf, in welchem Buch der Mann vor mir las: Picassos letzte Jahre von Hans Bahring. Das gefiel mir nicht. Es kam mir vor, als sollte ich irgendwie verspottet werden.
    »Schlimmes Wetter!« sagte ich.
    Er sah für einen Moment auf.
    »Nicht sehr gut, oder?« Ich zeigte auf Bahrings Machwerk.
    »Ich finde es interessant!« sagte er.
    »Weil Sie kein Experte sind.«
    »Daran wird es liegen«, sagte er und blätterte um.
    Ich lehnte meinen Kopf an die Nackenstütze, von der Nacht im Zug tat immer noch mein Rücken weh. Ich holte meine Zigaretten hervor. Der Regen ließ allmählich nach, schon tauchten die ersten Berge aus dem Dunst. Mit den Lippen zog ich eine Zigarette aus der Schachtel. Als ich das Feuerzeug aufschnappen ließ, fiel mir Kaminskis Stilleben von Feuer und Spiegel ein: ein zuckendes Gemisch heller Farbtöne, aus dem, als wollte sie die Leinwand verlassen, eine spitze Flamme sprang. Aus welchem Jahr? Ich wußte es nicht. Ich mußte mich besser vorbereiten.
    »Das ist ein Nichtraucherwaggon.«
    »Was?«
    Der Mann zeigte, ohne aufzusehen, auf das Zeichen an der Scheibe.
    »Nur ein paar Züge!«
    »Das ist ein Nichtraucherwaggon«, wiederholte er.
    Ich ließ die Zigarette fallen und trat sie aus, vor Wut biß ich die Zähne zusammen. Na schön, er wollte es so, ich würde nicht mehr mit ihm reden. Ich holte Komenews Anmerkungen zu Kaminski hervor, ein schlecht gedrucktes Taschenbuch mit einem unangenehmen Gestrüpp von Fußnoten. Es regnete nicht mehr, durch Risse in den Wolken zeigte sich blauer Himmel. Ich war immer noch sehr müde. Aber ich durfte nicht mehr schlafen, gleich mußte ich aussteigen.
    Kurz darauf schlenderte ich frierend durch eine Bahnhofshalle, eine Zigarette zwischen den Lippen, in der Hand einen dampfenden Becher Kaffee. Auf der Toilette schloß ich meinen Rasierapparat an, er funktionierte nicht.
    Also auch hier kein Strom. Vor einer Buchhandlung war ein Drehständer mit Taschenbüchern: Bahrings Rembrandt, Bahrings Picasso und in der Auslage, natürlich, ein Hardcoverstapel von Georges Braque oder Die Entdeckung des Kubus. In einer Drogerie kaufte ich zwei Wegwerfrasierer und eine Tube Schaum. Der Regionalzug war fast leer, ich drückte mich in die weiche Sitzpolsterung und schloß sofort die Augen.
    Als ich aufwachte, saß mir eine junge Frau mit roten Haaren, vollen Lippen und langen, schmalen Händen gegenüber. Ich sah sie an, sie tat so, als bemerkte sie es nicht. Ich wartete. Als ihr Blick meinen streifte, lächelte ich. Sie sah aus dem Fenster. Aber dann strich sie hastig ihre Haare zurück, ganz konnte sie ihre Nervosität nicht verbergen. Ich sah sie an und lächelte. Nach ein paar Minuten stand sie auf, nahm ihre Tasche und verließ den Waggon.
    Dumme Person, dachte ich. Womöglich wartete sie jetzt im Speisewagen, aber mir war es egal, ich hatte keine Lust aufzustehen. Es war schwül geworden: Der Dunstschleier ließ die Berge abwechselnd nahe und fern erscheinen, an den Felswänden hingen zerfaserte Wolken, Dörfer flogen vorbei, Kirchen, Friedhöfe, Fabriken, ein Motorrad kroch einen Feldweg entlang. Dann wieder Wiesen, Wälder, Wiesen, Männer in Overalls schmierten dampfenden Teer auf eine Straße. Der Zug hielt, ich stieg aus.
    Ein einziger Bahnsteig, ein rundes Vordach, ein kleines Haus mit Fensterläden, ein schnurrbärtiger Bahnwärter. Ich fragte nach meinem Zug, er sagte etwas, aber ich verstand seinen Dialekt nicht. Ich fragte noch einmal, er versuchte es wieder,
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