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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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meine Haut selbst – alle Kraft in meinem Körper hält ihn, wird ihn vor Schaden bewahren. Meine Beine sind aus Metall. »Sie können sich in den Schaukelstuhl setzen«, sagt die Krankenschwester. Ich lasse mich auf das Kissen unter mir nieder, die Holzstreben der Lehne stützen meinen Rücken wie kleine Bäume. »Halten Sie seinen Kopf hoch«, sagt sie und gibt mir eine Flasche. Die Schwester geht. Wir sind still. Mein Sohn und ich mögen es so, ganz in Ruhe. Ich stelle mich jetzt richtig vor: »Ich bin Mom.« Er mag mich. Ich lege den Sauger der Flasche auf seinen kleinen Rosenmund, sehe, wie er ihn nimmt. Aber er ist noch nicht hungrig. Ein bisschen Milch fließt auf seine Lippe. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich habe. Ich sage seinen Namen: »Tommy.« Ich bin die Erste, die ihn mit seinem Namen anspricht. Ich sage: »Ich liebe dich.« Ich möchte mir Zeit lassen, ihm alles erzählen. Aber er ist so zufrieden. Wir schaukeln ein bisschen. Ruhen aus. Wir hätten so gut zusammengepasst, im Schweigen. Die Schwester kommt wieder rein.
    Ich habe ihn nie wieder gefüttert. So viele Papiertücher ich auch in meinen Büstenhalter stopfe, trotz der Tabletten, die ich nehme, damit die Milch versiegt, sickert sie durch alle meine Sachen. Meine kleinen Brüste werden schwer und hart, dass sie wie kleine Basketbälle sind. Mit der Milch könnte ich zehn Babys stillen. Am Tage bringt die Krankenschwester ein Heizgerät, eine helle elektrische Sonne, die mir zwischen die Beine scheint, damit das Genähte trocknet. Die Vorhänge um mein Bett sind zugezogen. Ich höre meine Tante und meinen Onkel auf der anderen Seite, die über meine Bräunungssonne witzeln. Sie sind freundlich, sie freuen sich, dass sie die Eltern meines Babys sein werden. Seine Augen sind immer noch geschlossen. Im Verlauf des Tages verstoße ich gegen die Anweisung des Arztes und stehe bei jedem Füttern an der Scheibe. Ich beachte seine Warnung nicht, dass ich mir damit Schaden zufüge. Ich muss meinen Sohn sehen. So wie ich pressen musste, als er geboren wurde. Ich kann nicht anders. Ich sehe zu, wie eine Krankenschwester meinen Jungen auf dem Arm hält. Manchmal steht sie, wenn sie ihn füttert, manchmal sitzt sie. Wenn sie steht, hält sie ihn ganz hoch, als würde sie ihn jemandem zeigen – einem König. Hier ist er. Die Schwestern gucken mich grimmig an. Aber was können sie tun? Am Abend kommt eine Schwester zu mir und zieht den Vorhang zurück. Sie setzt sich auf mein Bett, als wäre sie meine Freundin. »Möchten Sie reden?«, fragt sie. »Nein«, sage ich. Vielleicht hat sie das zusätzlich getan, um nett zu sein, um zu helfen. Aber ich bin nicht in der Stimmung für Mitleid. An der Glasscheibe sehe ich zu, wie die Schwester meinem Sohn die Flasche gibt, und meine Brüste laufen über, machen dunkle Flecken durch meinen Büstenhalter, durch mein Nachthemd. Ich stehe da und sehe zu, wie sie ihn in ihren harten Armen hält, und ich denke: Ich kann das auch, ich kann das auch.
    Am vierten Tag werde ich entlassen. Die Luft ist angespannt, als meine Familie kommt – meine Mutter und mein Vater, meine Tante und mein Onkel –, weil sie Angst haben. Sie haben Angst, dass ich ihn in den Armen halten und nicht hergeben werde. Dass wir uns in einem Wagen aus der Stadt fahren lassen und ich auf dem Vordersitz bluten werde, während ich meine Gebärmutter massiere, damit sie sich auf ihre normale Größe zusammenzieht. Und das Blut gestillt wird. Meine Brüste haben genug Nahrung für meinen Sohn. Und er wird endlich angelegt und nimmt mir den Druck, nimmt von dem Milchvorrat, den ich für ihn bereithalte. Die Schwester zeigt meiner Tante und meinem Onkel den Bauchnabel meines Sohnes und erklärt, wie man die Stelle, wo wir verbunden waren, versorgen muss. Dazu macht sie die Wolldecke auf, mein nackter Junge. Meine Tante hat Anziehsachen für ihn. Sie hat einen Baby-Schneeanzug. Der umhüllt ihn in gepolstertem Kunststoff. Wie ein Eskimobaby. Meine Mutter will mich zur Seite schieben. Aber die Krankenschwester, die, die nie lächelt, sagt: »Ganz gleich, wer das Baby adoptiert, die Mutter geht mit ihm aus dem Krankenhaus.« Die Mutter, die Mutter. Das bin ich. Ich bin wieder sichtbar. Es ist eine Regel, das heißt, niemand kann widersprechen. Ich lege meine Arme zu einer Wiege zusammen. Die Krankenschwester gibt mir meinen Sohn in die Arme. Sein Schneeanzug ist weich und pluderig. Er sieht behaglich darin aus, die Augen geschlossen. Noch habe ich keine
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