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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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voller Mitgefühl zu dem Haus hinüber.
    Obwohl ich noch viele Jahre auf Kinder aufpasste, habe ich nie wieder einem Kind wehgetan. Niemals mehr. Warum ihm? Warum dem ersten Kind? Dem Jungen? Einige Jahre später ging ich zum Babysitten zu einer Familie mit zwei kleinen Kindern, von denen eins, der zweieinhalbjährige Junge, eine schlimme Krankheit hatte. Ein Sturz, und er konnte verbluten. Seine Eltern waren riesig, fettleibig. Ihre Küchenschränke standen offen – Kekse, Süßigkeiten. Vielerlei Sorten Schokolade. Sie sagten mir, ich könne essen, was ich wolle. Draußen stand ein Klettergerüst im Garten, der mehr aus blanker Erde denn aus Rasen bestand. Ich mochte nicht mit den Kindern nach draußen gehen, ich hatte Angst, der Junge könnte sich etwas tun. Ich stellte mir vor, dass sein Blut herausströmte, sich aus seinem Körper ergoss, aus seinen Adern, und ich müsste die Notfallnummer wählen. Aber was sollten die Eltern anderes machen? Sie konnten es sich nicht leisten, einen Sanitäter einzustellen, der auf die Kinder aufpasste. Wahrscheinlich gingen sie ins Kino oder zum Essen. Wenn ich bei den Kindern war, rannten die die ganze Zeit in dem kleinen dunklen Haus herum. Wer würde den Eltern ein paar Stunden nur für sich, weg von zu Hause, verübeln? Ich entdeckte riesige Stapel von pornografischen Heften. Im Badezimmer lagen die Hefte in einem Korb. Aber im Schlafzimmer waren sie kniehoch an der Wand gestapelt, eine Porno-Barrikade. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich schloss mich für ein Weilchen im Badezimmer ein und betrachtete die Fotos, die Positionen der Körper wie bei einem Verrenkungsspiel. Das ältere Kind klopfte fortwährend an die Tür, und der Kleine konnte, sobald ich ihn unbeaufsichtigt ließ, einen Unfall haben. Ich drehte die Seiten um und dachte:
Fall bloß nicht hin, fall bloß nicht hin.
    Als ich Anfang zwanzig war, besuchte ich meine Eltern in ihrem neuen Haus, das in derselben weitläufigen Siedlung lag wie das, in dem wir wohnten, als ich elf war. Der Junge, dem ich einen Klaps gegeben hatte, war groß geworden. Er war inzwischen vierzehn. Er war lernbehindert, und nachdem meine Mutter den ganzen Tag die erste Klasse unterrichtet hatte, gab sie ihm Stunden. Sie saßen im Wohnzimmer meiner Eltern an dem runden Tisch, den wir jeden Tag benutzt hatten, die Köpfe über seine Schulsachen gebeugt. Er hob den Kopf und sah mich mit einem strahlenden Lächeln an, fast verliebt, als wäre ich schön. Ich weiß nicht einmal seinen Namen. Ich weiß nicht, wie ich um Verzeihung bitten soll. Jetzt ist das Baby schon über dreißig.
    Wir zogen weg, als ich vierzehn wurde. Eine kurze Verlegung von Orlando auf einen Militärstützpunkt in El Paso, nur für die erste Hälfte meines achten Schuljahrs. Da, in der Wüste, fühlte ich mich noch weniger heimisch. In der Nachbarschaft gab es keine Kinder in meinem Alter. In der Schule hatte ich eine Freundin, aber wir waren nicht sehr eng. Das Mädchen in
Go Ask Alice
wurde mein Vorbild. Ich fand heraus, dass die angeblich wahre Geschichte nicht wahr und das Buch von mehreren Erwachsenen geschrieben worden war, nicht von einem fünfzehnjährigen Mädchen. Ich wollte trinken wie sie. Das Mädchen in dem Buch kam mir wahrhaftiger vor als irgendjemand sonst, ihre Einsamkeit. Ich war fasziniert davon, wie Drogen ihr die Welt aufschlossen und sie einließen. Das Tagebuch endet mit einem Epilog, in dem es heißt, das Mädchen sei an einer Überdosis Heroin gestorben. Ich wusste, dass ich mich später, wenn ich älter würde, vorsehen müsste und dass es Drogen gab, die ich nicht nehmen durfte.
    Von El Paso würden wir für ein paar Jahre nach Florida ziehen, an die Küste, auch das ein Militärstützpunkt. Dort wohnten die fettleibigen Pornosammler. Sie hatten keinen Alkohol im Haus. Aber die Nachbarn, die mich Helen nannten, hatten welchen. Ich hatte nichts gesagt, als sie mich das erste Mal beim falschen Namen nannten, und später konnte ich sie unmöglich noch auf ihren Irrtum hinweisen. Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Als Helen gab ich mir Mühe, ihr Kind nicht aufzuwecken, aber ich hielt es sehr gern im Arm. In dem Zimmer des Babys stand ein Schaukelstuhl, und den ganzen Abend, bis das Scheinwerferlicht des Autos der Eltern in die Einfahrt einbog, schaukelte ich das Kind. Manchmal stahl ich auch den Alkohol der Eltern. Sie hatten das Cat-Stevens-Album von 1975 und ein Plakat von ihm, wie er auf Hawaii singt, mit einer Blumengirlande
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