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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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Angst, etwas falsch zu machen, ihn festzuhalten. Ich weiß, dass es nur für ein paar Augenblicke ist, und wir sind nicht allein, aber ich bin so dankbar, ihn wiederzuhaben. Licht und Luft um uns herum, trotz der drängenden anderen. Ich gehe den weißen Flur entlang. Sie sind alle um mich herum, besorgt. Aber wir sind ruhig. Dann geht die Eingangstür auf, und die Luft bläst kalt auf uns hernieder. Ich stehe an der Schwelle, trete auf den Vorplatz des Krankenhauses, und meine Mom befiehlt: »Gib Julia das Baby.« Das tue ich. Aber es ist, als wäre ich eine Apfelsine, ein Apfel, ein Stück Obst mit einer Schale, die mit einem Messer zerschnitten wird. Die wassernasse Luft um mich herum ist die Welt, die man sieht. Der Vorplatz hat ein paar breite Stufen, als wäre das Krankenhaus ein Wohnhaus. Meine Tante lächelt über das ganze Gesicht, ich kann von ihrem Gesicht nur das Lächeln sehen, nicht aber die Augen, die sind auf ihn geheftet. In der Welt gehört er jetzt ihr.

Der Junge, der seine Mutter in sich hat
    Bevor Mark und Julia zum Flughafen fahren, bevor Tommy uns für immer verlässt, kommen sie für ein paar Stunden mit zum Haus meiner Eltern, zu unserem Haus. Wir verlassen das Krankenhaus. Wir steigen alle ins Auto. Ich habe keine Erinnerung an die Fahrt, nicht daran, dass ich mit meiner Mutter und meinem Vater, mit Mark und Julia und Tommy im Auto war. Es muss eng gewesen sein – fünf Erwachsene und ein Baby in einem Auto. Vielleicht war es ein Kombi. Ich saß wahrscheinlich hinten. Es ist, als wäre ich verschwunden, nachdem ich Tommy weggegeben hatte – ich kann mich selbst nicht sehen.
    In unserem Haus sitzen wir alle im Wohnzimmer. Auf der Küchentheke steht ein offener Karton Donuts. Mark und Julia haben hier bei meinen Eltern gewohnt, als Tommy und ich im Krankenhaus waren. Tommy liegt in den Armen meiner Mutter, als er zum ersten Mal die Augen aufmacht. Sie ist der erste Mensch, den er sieht. Es sei denn, er hat im Auto die Augen aufgemacht, nachdem ich verschwunden war. Oder bei den paar Schritten ins Haus. Bevor das Foto von ihm gemacht wurde, als er sie in schläfrigem Erstaunen ansieht. Meine Mom lächelt, hält ihn fest in den Armen. Beide in dem braunen Schaukelstuhl. Er trägt einen hellblauen, weichen Strampelanzug mit Füßen. Ein winziger gelber Winnie Puuh ist links von seinem Herzen. Auch mein Bruder, mit einem Lächeln und neuem Schnurrbart, hält meinen Sohn. Er hält ihn hoch, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe sind. Tommy hat zwei Finger am Mund und sieht zu meinem Bruder hin.
    Jemand sagt: »Jetzt du, Kelle.« Sie lassen mich nicht mitkommen zum Flughafen. Als Mark und Julia aufstehen und zu der Tür gehen, die in die Garage führt, stehe ich auch auf. Ich gehe mit ihnen. Meine Mom sagt: »Nein, du kannst nicht mit. Deine Zeit ist vorbei.« Nachdem die Tür zugefallen ist, höre ich Tommy weinen. Es ist das erste Mal seit seiner Geburt, dass ich ihn weinen höre. Er ist laut. Er hört nicht auf. Die Autotüren klappen auf, klapp, klapp. Er weint immer noch. Das ist das Letzte, was ich höre.
    Als jemand sagte: »Jetzt du, Kelle«, und mir Tommy zu halten gab, wusste ich, dass er nicht mehr mein war. Dass alle zusahen, mit beklommenem Lächeln, und Angst hatten, ich würde ihn nicht wieder hergeben. Auf einem goldenen Stuhl halte ich ihn so locker, dass sein Kopf aus meinem Arm gleitet und die Stuhllehne berührt. Ich wollte ihnen zeigen, dass man mir trauen kann. Wollte zeigen, ich kann loslassen. Jemand atmete scharf ein, und ich dachte, da sieht man es, ich tauge nicht dafür, ich kann ihn nicht einmal festhalten, ihm Sicherheit geben. Ich beneidete Mark und Julia um ihren Elternkurs und dass sie ihn richtig hielten, fest an die Brust, an ihre Zukunft gedrückt.
    Als Mark und Julia mit Tommy im Auto wegfahren, mit meinen Eltern, sage ich mir, sie sind nur zum Supermarkt gefahren. Sage mir das immer wieder, um so bis in mein Zimmer zu kommen und die Tür zuzuschließen. »Gleich sind sie zurück. Gleich sind sie zurück.« Nur mein Bruder ist noch im Haus, er hämmert an die Tür. »Ist alles in Ordnung?«, fragt er immer wieder. Aber ich kann nichts sagen. Liege mit dem Gesicht auf dem Teppich, halte mich am Fußboden fest. Er fühlt sich an, als wäre er abschüssig, als wäre der Fußboden das Dach. Ich schreie, aber ohne Geräusch.
    An dem Tag trug ich ein rosa Kleid, bedruckt mit roten Blumen, als würde ich zu einer Hochzeit gehen, einem Fest. Nicht wie eine Mutter.
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