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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich
Autoren: Janet Clark
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Lydia nickte den anderen Patientinnen in dem Vierbettzimmer freundlich zu und zog einen Stuhl an Maries Bett, dem letzten im Raum.
    »Hallo Marie, wie geht es dir?«
    »Oh Mann, endlich! Die wollen mich hier umbringen, weißt du, wann ich meinen letzten Chick hatte?« Marie richtete sich mühsam im Bett auf. Ihr linker Arm war geschient, ihr rechtes Auge hatte einen breiten, lilafarbenen Rand, über der Augenbraue klebte eine Mullbinde, ihre Oberlippe war mit zwei Stichen genäht worden.
    »Du siehst echt scheiße aus.« Lydia berührt die Schiene. »Tut’s weh?«
    »Frag mich, wenn die Schmerzmittel nachlassen. Viel schlimmer ist, dass ich nicht allein aus dem verdammten Bett darf.« Sie rümpfte die Nase und zog ihre lädierte Lippe leicht nach oben. »Ich könnte ja zusammenklappen … Blödsinn. Komm, ich will in den Garten.«
    »Du willst eine rauchen.« Lydia schlug die Bettdecke zurück und half ihr, sich aufzusetzen.
    »Und? Warum nicht? Ich hab noch nie gehört, dass man wegen einem gebrochenen Arm nicht rauchen darf.« Ihre dünnen Beine waren übersät mit blauen Flecken und Schürfwunden. »Holst du mir meinen Mantel?«
    Marie inhalierte den Rauch, behielt ihn eine Zeit lang in der Lunge und stieß ihn dann mit einem tiefen Seufzer aus. Lydia beobachtete sie von der Seite, registrierte die hektischen Bewegungen, die Nervosität, die sie vergeblich zu überspielen versuchte.
    »Das tut gut. Oh Mann, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie biestig die hier sind.«
    »Was ist passiert, Marie?« Lydia legte ihre Hand auf Maries Oberarm. »Und erzähl mir nicht den Schrott mit dem Albtraum. Verstanden?«
    Marie schloss kurz die Augen. »Ich … ich weiß es nicht. Wirklich. Ich weiß es nicht.«
    »Marie!« Lydia fixierte ihr Gesicht. »Du springst aus dem Fenster und weißt nicht warum? Für wie blöd hältst du mich?«
    »Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Ich hab schon geschlafen und plötzlich …« Sie brach ab. Ihre Unterlippe zitterte. Schnell führte sie die Zigarette an den Mund und nahm einen Zug.
    »Und plötzlich?«
    »Er stand einfach da. An meinem Bett. Hat mich an den Haaren nach oben gezogen. Mich angeschrien. Und meinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Und …« Ihre Augen wurden feucht, sie zwinkerte mehrmals, doch sie konnte die Tränen nicht mehr zurückdrängen.
    Lydia zog ein Taschentuch aus ihrem Rucksack.
    »Und dann?« Sanft tupfte sie über die Tränen, die Maries Wangen herunterliefen.
    »Er hat immer nur geschrien. Du Hure, ich bring dich um . Immer wieder. Du Hure, ich bring dich um . Und meinen Kopf gegen die Wand. Ich hab doch geschlafen. Ich wusste gar nicht, was los war.« Sie nahm Lydia das Taschentuch aus der Hand. Resolut wischte sie sich über die Augen und schnäuzte sich. »Immer du Hure, ich bring dich um, ich hatte solche Angst, so hab ich ihn noch nie gesehen.«
    »Weißt du, was ihn so aufgeregt hat?«
    Marie nickte. »Ich glaub schon.« Die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
    Lydia wartete, dass sie weitersprach. Sie wusste, es war sinnlos, Marie jetzt zu drängen, sie musste es von allein erzählen.
    »Wegen meinem Ex. Wegen dem Geld. Für den Laden. Er wusste nicht, dass …« Sie schwieg und rauchte stumm ihre Zigarette zu Ende, warf sie vor sich auf den Boden und zerquetschte sie mit der dünnen Sohle ihres Stiefels. »Er wusste nicht, dass das Geld dafür von meinem Ex war. Die Bank hat mir doch nichts gegeben!«
    Sie starrte in den Schnee, noch immer trat sie auf der Kippe herum. »Er sagt, ich besorg’s meinem Ex …« Sie stampfte mit dem Fuß auf.
    Lydia berührte sie am Arm, ganz leicht nur, um sie nicht zu unterbrechen, aber fest genug, um sie spüren zu lassen, dass sie nicht alleine war.
    »Das ist mein Geld! Das ist mein Anteil am Haus!« Sie drehte ihren Kopf zu Lydia. »Meins! Verstehst du. Dafür muss ich es niemandem besorgen …«
    »Hat er dich aus dem Fenster gestoßen?«
    Marie schüttelte den Kopf. »Ich hatte so eine Angst. Ich hab mich losgerissen und bin ins Wohnzimmer, und da hab ich mit der Ginflasche nach ihm geworfen, und die ist zerbrochen, und er ist mit der Flasche auf mich los, und ich bin in die Küche und hab die Tür zugesperrt, und dann …«
    Sie rieb sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Und dann hat er die Tür eingetreten, und ich bin aus dem Fenster gesprungen.«
    Lydia legte den Arm um Marie, die den Kopf an Lydias Schulter lehnte. Gemeinsam schwiegen sie in der Stille des Krankenhausgartens. Die Bilder von
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