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Ich schreib dir morgen wieder

Titel: Ich schreib dir morgen wieder
Autoren: Cecilia Ahern
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Sobald diese einzelne Ameise die richtige Route gefunden hat, hinterlässt sie für die anderen eine Duftspur, der dann alle folgen können. Wenn man aber auf so eine Ameisenkarawane tritt oder wenn man – eine etwas weniger gemeine Methode – die Duftspur auf irgendeine Weise manipuliert, geraten die Tiere in helle Panik. Diejenigen, die zurückbleiben, krabbeln hektisch hin und her und bemühen sich, den Pfad wieder aufzuspüren. Ich sehe gern zu, wie sie zuerst völlig orientierungslos herumwimmeln, vollkommen verwirrt, sich gegenseitig umrennen, aber schließlich zu einer neuen Formation finden und irgendwann wieder in gerader Linie hintereinander hermarschieren, als wäre nichts geschehen.
    Die panischen Ameisen erinnern mich an meine Mum und mich. Jemand hat unsere Karawane zerstört, unseren Anführer und unsere Orientierung geraubt und uns ins Chaos gestürzt. Ich glaube – ich
hoffe –
, dass wir irgendwann auf unseren Weg zurückfinden und weitergehen können. Aber wir brauchen einen Anführer, und da Mum die Sache passiv auszusitzen scheint, denke ich, dass ich diejenige sein werde, die sich erst mal alleine auf die Socken machen muss.
    Gestern habe ich eine Schmeißfliege beobachtet. In ihrem Eifer, aus dem Wohnzimmer zu entkommen, flog sie ständig gegen die Fensterscheibe, wobei sie sich jedes Mal gnadenlos den Kopf am Glas stieß. Irgendwann jedoch gab sie die Geschossnummer auf und beschränkte sich von nun an bei ihren Bemühungen auf ein kleines Stück Scheibe, auf dem sie in sinnloser Panik herumbrummte. Ein frustrierender Anblick, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Freiheit so leicht zu erreichen gewesen wäre – sie hätte nur ein kleines bisschen höher hinauffliegen müssen, statt es immer wieder auf die gleiche, erwiesenermaßen aussichtslose Weise zu versuchen. Ich konnte mir gut vorstellen, was für ein schreckliches Gefühl es sein musste, die Bäume, die Blumen, den Himmel zu sehen, aber einfach nicht hinkommen zu können. Ein paarmal versuchte ich, dem dummen Tier zu helfen, indem ich es in Richtung des offenen Fensterflügels scheuchte, aber das machte ihm nur noch mehr Angst, es ergriff die Flucht vor mir und raste quer durchs Zimmer, nur um irgendwann zur gleichen Stelle am gleichen Fenster zurückzukehren. Ich konnte mir fast einbilden, sein verzweifeltes Stimmchen zu hören, wie es brummte: »Also, hier bin ich aber doch reingekommen …!«
    Während ich so in meinem Sessel saß und den Brummer beobachtete, überlegte ich mir, ob Gott sich wohl so fühlte wie ich in diesem Moment – falls es einen Gott gab. Ob er sich zurücklehnte und das große Ganze sah, so, wie ich jetzt mühelos durchschaute, dass die Freiheit für die Fliege zum Greifen nah war und sie nur ihre Taktik ein bisschen ändern musste. Das Tierchen saß gar nicht wirklich in der Falle, überhaupt nicht – es rackerte sich nur an der falschen Stelle ab. Ich fragte mich, ob Gott wohl auch einen Ausweg für mich und Mum wusste. Wenn ich das offene Fenster für den Brummer sehen konnte, dann war es für Gott bestimmt kein Problem, das Morgen für mich und Mum zu sehen. Irgendwie fand ich diese Idee tröstlich. Na ja, jedenfalls bis ich ein paar Stunden später von einer Erledigung wiederkam und auf dem Fenstersims eine tote Schmeißfliege vorfand. Vielleicht war es nicht die gleiche Fliege, aber trotzdem … Ich fing prompt an zu weinen – woran ihr sehen könnt, in welcher Verfassung ich mich zurzeit befinde … Dann wurde ich sauer auf Gott, weil in meinem Kopf der Tod des Brummers bedeutete, dass Mum und ich nie einen Ausweg aus diesem Fiasko finden würden. Was nutzt es denn, wenn man den Überblick hat und sieht, wie einfach die Lösung eines Problems ist, aber nichts tun kann?
    Dann wurde mir klar, dass ich in diesem Fall tatsächlich Gott war. Ich hatte versucht, dem Brummer zu helfen, aber er hatte meine Hilfe nicht angenommen. Da bekam ich Mitleid mit Gott, weil ich plötzlich seinen Frust verstehen konnte. Manchmal wird man weggestoßen, wenn man die Hand ausstreckt, um jemandem zu helfen, denn jeder Mensch möchte sich lieber selbst helfen.
    Früher habe ich über solche Dinge nie nachgedacht. Über Gott, über Fliegen, über Ameisen. Ich hätte mich nicht mal tot in einem Sessel mit einem Buch in der Hand erwischen lassen, wie ich an einem Samstagnachmittag eine dreckige Fliege beobachte, die gegen die Fensterscheibe rumst. Vielleicht hatte Dad in seinen letzten Momenten etwas
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