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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Fahrtbehinderung. Wir danken für Ihr Verständnis. Jemand flüstert in sein Handy: Es hat wieder einen erwischt.
    Zum ersten Mal seit langem hatte ich Lust, mich abzulenken. Die Eltern waren ausgegangen, ich sah die Lichter ihres Autos, wie es aus der Hauseinfahrt bog. Kaum waren sie weg, schlich ich, selbst jetzt noch auf Zehenspitzen, ins Wohnzimmer hinüber. Ich schaltete den Fernseher ein. Eine Kochsendung. Weiter. Ein Baseballmatch. Ich ließ es laufen, während ich, nun schon fester auftretend, vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, vom Schlafzimmer ins Badezimmer, vom Badezimmer ins Gästezimmer ging. Ein verlassenes Bett inmitten von Kartons. Zerlesene Bücher. Ein Teddy. Altes Kinderspielzeug. Der vertraute Geruch von Dingen, die man einst wertgeschätzt hat. Das Gästezimmer war eine Rumpelkammer geworden. Der letzte Gast, derhier geschlafen hatte, war Mutters Freundin, Tante Sachiko, gewesen. Besucher kamen nur mehr selten und wenn, dann bloß auf ein Wort im Eingang. Das ganze Haus schien darauf zu warten, dass wieder jemand käme, um es mit Leben zu füllen. Es war ein trauriges Haus. Um es zu trösten, ging ich noch einmal vom Gästezimmer ins Badezimmer, vom Badezimmer ins Schlafzimmer, vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und hinterließ überall dort, wo es mir gerade gefiel, eine Spur, die ihm sagen sollte, dass es noch ein kleines bisschen Leben in ihm gab. Ich verrückte Gegenstände. Einen halben Zentimeter weit. Drückte Kuhlen in Polster und Kissen. Tauschte ein Handtuch gegen ein anderes. Und stellte die Uhren eine Minute zurück. Von den Wänden im Flur lächelten Fotos aus einer fernen Vergangenheit. Bei einem blieb ich stehen. Es zeigte uns zu dritt vor einer nachträglich dazumontierten Kulisse. Die Golden Gate Bridge. Darüber ein riesenhaft aufgeblasener Mond. Niemals waren wir in San Francisco gewesen. Ich drehte das Foto gegen die Wand.

42
    Und? Sind Sie ans Meer gefahren?
    Nein. Er versuchte zu lachen, es misslang. Kyōko meinte, ich sähe erschöpft aus und solle einmal einfach nur sitzen und Stille halten. Sie meinte: Ich würde mich sonst noch zu Tode arbeiten. Typisch Kyōko, sie kennt mich zu gut. Sie weiß, dass ich ein Mensch bin, dem es schwerfällt, nichts zu tun. Jedenfalls war ich das mal. Aber das ist nun schon ein ganzes Weilchen her.
    Zwei Monate?
    Ja. Ungefähr zwei. Seit ich entlassen wurde, ist die Zeiteine ungefähre. Dabei weiß ich eigentlich gar nicht mehr, wie ich sie überhaupt jemals hingebracht habe. Mir scheint, ich habe immer nur gearbeitet, nichts als gearbeitet, und zwar im Gegensatz zu manch anderem: gern.
    Aber warum sind Sie dann hier?
    Ich konnte zuletzt nicht mehr mithalten. Er sprach, ohne mich anzuschauen, das Gesicht leicht zur Seite gedreht. In der Firma hatte ich begonnen aufzufallen. Zehn junge Köpfe. Darunter ich, ein grauer. Zwanzig Hände. Darunter meine, zu langsam. Ich fiel auf als einer, der verfiel. Sogar beim Trinken nach der Arbeit hatte ich nachgelassen. Während die anderen tranken, bis sie umkippten, trank ich bloß die Hälfte und kippte trotzdem um. Kein Vergnügen, wenn man dann daliegt und nicht mehr weiß, wie man in den morgigen Tag kommen soll. Man fängt an, sich alle möglichen Fragen zu stellen. Man sieht in den Spiegel und schaut schnell wieder weg. Man vermeidet es, das Wort alt in den Mund zu nehmen. Doch es rutscht einem raus, gerade dann, wenn es nicht passt. Und unpassend ist man selbst, irgendwie passt man nicht länger hinein.

43
    Einmal stolperte ich. Es war ein Missgeschick. Ich war dabei, einen Stapel Papier ins Büro eines Kollegen zu tragen. Eine Zeitlupenaufnahme. Da war das Kabel. Ich sah es. War mit dem einen Fuß schon auf der sicheren Seite. Blieb mit dem anderen hängen. Das Papier stob auseinander. Um mich herum schwarze Zahlen. Eine rote: Achtundfünfzig. Sie lachte mich aus. Zehn Krawatten waren meine Zeugen. Zwanzig Augen, ein Blick. Der ist weg, tuschelte einer, aber sowas von weg.
    Mein Missgeschick, das einzig große, das mir in den fünfunddreißig Jahren, die ich gearbeitet habe, unterlaufen war, löste eine Kette von Fehlern und Unsicherheiten aus. Ich war gestolpert im wahrsten Sinne des Wortes, und das, was mir entglitten war, war weitaus mehr als bloß ein Stapel Papier gewesen. Ich beobachtete mich. Etwas stimmte nicht mit mir. Ich tastete meine Arme und Beine ab. Lief versuchsweise die
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