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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte
Autoren: Milena Michiko Flasar
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viele Narben. Ich verbarg sie blitzschnell.

37
    Schwarzwurzeln, ein Nudelsalat, zwei Kroketten.
    Die paar Brösel, die übriggeblieben waren, streute er vor die Tauben, die sich flügelschlagend um uns geschart hatten. Er stampfte auf. Sie schwirrten davon. Kamen wieder mit aufgeplusterten Hälsen. Hatten vergessen, dass er sie eben noch weggescheucht hatte. Die armen Tiere, murmelte er. Es muss schlimm sein. Ohne Erinnerung. Aber vielleicht nicht so schlimm, wie man sich’s denkt. Ich meine. Wenn man alles vergessen würde. Würde man dann nicht auch alles vergeben? Sich selbst und dem anderen? Wäre man nicht frei von Reue und Schuld? Ein elektrisches Knistern, er wischte sich mit dem Ärmel einen unsichtbaren Fleck von der Hose. Nein, nicht wahr, das wäre zu einfach. Um zu vergeben, um wirklich frei zu sein, muss man sich erinnern, Tag für Tag.
    Magst du weitererzählen?
    Ja, ich mag vergeben. Der Satz kam so, genau so, aus mir heraus.
    Ich bin kein typischer Hikikomori, fuhr ich fort. Keiner, von dem in den Büchern und Zeitungsartikeln, die man mir dann und wann zur Lektüre auf die Schwelle legt, die Rede ist. Ich lese keine Mangas* , ich verbringe den Tag nicht vor dem Fernseher und die Nacht nicht vor dem Computer. Ich baue keine Modellflugzeuge. Von Videospielen wird mir schlecht. Nichts soll mich ablenken von dem Versuch, mich vor mir selbst zu bewahren. Vor meinem Namen etwa, vor meinem Erbe. Ich bin der einzige Sohn. Vor meinemKörper, dessen Bedürfnisse nicht aufgehört haben, mich zu erhalten. Vor meinem Hunger, vor meinem Durst. In den zwei Jahren, die ich abgesessen habe, überkam mich mein Körper drei Mal am Tag. Ich schlich dann zur Tür, öffnete sie einen Spalt weit, nahm das Tablett hoch, das Mutter mir hingestellt hatte. Wenn niemand zu Hause war, schlüpfte ich hinaus ins Badezimmer. Ich wusch mich. Seltsam, dieses Bedürfnis, mich zu waschen. Ich putzte mir die Zähne und kämmte mir die Haare. Sie waren lang geworden. Ein Blick in den Spiegel: Es gibt mich noch. Ich unterdrückte den Schrei, der in meiner Kehle saß. Auch vor ihm wollte ich mich bewahren. Vor meiner Stimme, vor meiner Sprache. Der Sprache, in der ich nun festhalte, dass ich nicht weiß, ob es den typischen Hikikomori überhaupt gibt. So wie es die unterschiedlichsten Zimmer gibt, gibt es die unterschiedlichsten Hikikomoris, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen und auf die unterschiedlichste Art und Weise in sich verkrochen haben. Während der eine, ich habe von ihm gelesen, seine dahinschwindende Jugend damit verbringt, die immer gleiche Melodie auf einer nur dreisaitigen Gitarre einzuüben, hat der andere, auch von ihm habe ich gelesen, eine Sammlung von Muscheln angelegt. Nachts, wenn es dunkel ist, läuft er, die Kapuze überm Kopf, ans Meer und kehrt erst dann wieder heim, wenn der Morgen graut.

38
    Mein Glück ist es, dass man mich bis heute in Ruhe gelassen hat. Denn es gibt auch solche, die man herausgelockt hat. Man verspricht ihnen eine Wiedereingliederung. Genesung auch. Arbeit. Erfolg. Mit diesem dünnen Versprechen auf den Lippen werden sie Schritt für Schritt zurück in dieGesellschaft, jenes große Gemeinsame, geführt. Man gewöhnt sie daran, ihr gefällig zu sein. Man harmonisiert sie. Ich aber habe Glück. Man rechnet nicht mit mir. Man schickt mir keinen Sozialarbeiter vor das Zimmer, der stundenlang auf mich einredet. Die Bücher und Zeitungsartikel, wenn ich umblätterte, Vaters Aftershave, dann wieder ein dumpfes Klopfen, Mutters Fingerabdruck in einem der Reisbällchen, dieses wenige Leben ist gerade genug, gerade noch aushaltbar. Man gewährt es mir. Das ist mein Glück. Teil einer Familie zu sein, die es mir gewährt, mich zu verschließen. Aus Scham, wohlgemerkt. Niemand soll wissen, dass ich ein Hikikomori bin. Den Nachbarn hat man erzählt, ich sei auf Austausch in Amerika, und nachdem ich nun wieder nach draußen gehe, hat man ihnen erzählt, ich sei zurückgekommen, bräuchte Zeit, mich an die Heimat zu gewöhnen. Mein Glück ist es, Teil einer Familie zu sein, die sich für mich schämt.
    Und vielleicht ist es dieses Glück, das einen Hikikomori am ehesten kennzeichnet. Das Glück, auf unabsehbare Zeit aus dem Geschehen und Geschehenwerden, aus dem Zusammenspiel von Ursache und Wirkung befreit zu sein. Ohne ein menschliches Ziel vor Augen und ohne den Willen
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