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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Es schmeckt! Er rieb sich den Bauch. Fast zu gut, stockend, für einen wie mich. Aber, nicht wahr, ich habe Glück! Mit diesen Worten wandte er sich seinem Essen zu.
    Vor meinem inneren Auge sah ich Kyōko, seine Frau, im Nachthemd in der Küche stehen. Zischendes Öl. Ein Klecks Marinade an ihrem Ärmel. Sie hackt und rührt. Schält. Schneidet. Salzt. Das ganze Haus ist erfüllt von den Geräuschen des Hackens und Rührens. Des Schälens. Schneidens. Salzens. Er wacht auf. Noch halb im Schlaf, denkt er: Ich habe Glück. Er denkt es mit einer in ihrer Unermesslichkeit kaum erträglichen Traurigkeit: Ich habe verdammtgroßes Glück. Er steht auf. Geht ins Badezimmer. Beugt sich über das Waschbecken und dreht kaltes, sehr kaltes Wasser auf. Hält das Gesicht hinein, die Haare, den Nacken. Dreht weiter. Taucht auf. Und wieder unter. Bleibt untergetaucht. Dreht zu. Bleibt unten. Hört das Glucksen im Abfluss. Dreht auf. Zu. Auf. Zu. Sieht, wie das Wasser sich in Tropfen, die Tropfen sich in Tröpfchen teilen. Ein Klecks Zahnpasta am Beckenrand. Weiß auf Weiß. Er greift mit dem Finger hinein und –
    â€“ Kyōko weiß es nicht. Ein leichtes Aufstoßen. Er sprach wie zu sich selbst: Kyōko weiß nicht, dass ich hierher komme. Ich habe es ihr nicht gesagt. Gedehnte Silben: Ich ha-be ihr nicht ge-sagt, dass ich mei-ne Ar-beit ver-lo-ren ha-be.

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    Die Pause danach. Ich war zum Mitwisser geworden. Eben erst ausgesprochen, hatte uns sein Geheimnis zu Verbündeten gemacht. Es war das Gewicht in meinen Füßen, die Unmöglichkeit, endgültig, auf und davonzugehen. Er hatte sich mir anvertraut, allein mir. Ich schaute auf die Schuhe, die mich drückten. Ausgebeult und abgegangen. Einen halben Meter vor sich stellte er die Fersen auf. Schwarzes Leder, glattpoliert. Vaters Schuhe, schoss es mir durch den Kopf. Ob wohl auch er manchmal Sehnsucht danach hat, sich jemandem anzuvertrauen? Mit einiger Bitterkeit bemerkte ich: Ich wusste weniger über ihn als über den, dessen Namen ich vor knapp drei Stunden erst erfahren hatte. Ein Grund mehr, neben ihm sitzen zu bleiben und ihm erneut, über seine Aktentasche hinweg, zuzunicken.
    Schon komisch. Er nahm den Faden wieder auf. Es ist nicht so, dass ich es Kyōko nicht sagen wollte. Nein, ichwollte es. Aber dann. Ich brachte es nicht übers Herz. Irgendetwas hielt mich zurück. Vielleicht die Gewohnheit. Grauer Rauch aus seinem Mund. Die Gewohnheit, in der Früh aufzustehen und mir das Gesicht zu waschen. Sie bindet mir die Krawatte. Im Hinausgehen rufe ich: Einen schönen Tag. Sie ruft: Dir auch. Sie winkt mir nach. Bei der ersten Wegbiegung drehe ich mich noch einmal nach ihr um. Ihre Gestalt vor dem Haus. Wie eine wehende Fahne. Ich könnte zurücklaufen. Aber da kommt schon der Bus. Ich steige ein. Es geht zum Bahnhof. In den Schnellzug. Nach A. In die U-Bahn. Nach O. Auf eine Art, er lachte, geht es. Nicht ich. Er lachte noch immer. Es geht.

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    Und du? Was treibt dich her? Ich zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung? Hm, du bist ja noch jung. Achtzehn? Ich fror ein. Neunzehn? Zwanzig? Unglaublich, so jung. Alles vor sich zu haben. Nichts hinter sich. Er seufzte. Unglaublich, selbst einmal so jung gewesen zu sein. Dabei. Was heißt das schon? Ich meine, es gibt für jeden nur ein Alter. Ich war und bin, werde immer achtundfünfzig sein. Du aber. Pass auf, welches Alter du dir aussuchst. Es klebt an einem. Es klebt einen zu. Das Alter, das du dir aussuchst, ist wie Klebstoff, der sich um dich herum verhärtet. Diese Weisheit stammt allerdings nicht von mir. Ich habe sie aus einem Buch. Einem Film. Ich weiß es nicht mehr. Man merkt sich Sachen. Unglaublich. Man merkt sich ein Leben lang Sachen.
    Während er in der Zeitung las, dachte ich darüber nach, was er gesagt hatte. Doch je mehr ich darüber nachdachte, entglitt mir das Was und stattdessen war es das Wie, dasmich gefangen nahm. Der verbrauchte Tonfall, mit dem er den Wörtern einen herben Geschmack beigegeben hatte. Ob jung oder unglaublich, beides hatte so, wie er es gesagt hatte, eine würzig schwere Note bekommen und beides war so, wie ich es gehört hatte, ein und dasselbe Wort gewesen. So spricht man, dachte ich, wenn man sehr lange geschwiegen hat. Alle Wörter sind einem dann gleich und man kann kaum verstehen, was das eine vom anderen trennt. Ob Klebstoff oder Leben, es machte keinen allzu großen
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