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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Gruß? Vielleicht: Leb wohl? War es mein Name gewesen? Oder: Vater? Vielleicht: Mutter? Oder irgendetwas, was nicht von Bedeutung war, und es war sinnlos, es wissen zu wollen.
    Die restliche Nacht verbrachte ich in einem Zustand der Entrücktheit. Ich schlief nicht, gleichwohl schlief ich den Schlaf eines Traumwandlers. Sobald ich die Augen zumachte, sah ich die Hand, in der Dunkelkammer meines Gedächtnisses, Kumamotos Hand, wie sie sich herausschälte, schrecklich einsam, sich abhob vom schwarzen Asphalt. Sie hatte auf mich gezeigt. Von allen Umstehenden auf mich. Und was mich am meisten daran bestürzt hatte, war die plötzlich in mir aufwallende Scham gewesen, dieses: Ich kenne ihn nicht. Er gehört nicht zu mir. Gerne werde ich weggetrieben. Von ihm, der da liegt und leidet. Die Scham war vergangen, so plötzlich, wie sie gekommen war, aber es nützte nichts, mir im Nachhinein einzureden, sie sei eine natürliche Reaktion gewesen. Sie war da, ich hatte sie gefühlt, sie war immer noch da gewesen, und mit ihr die Wut, dieses: Warum hatte Kumamoto etwas öffentlich gemacht, was nur ihn und ihn allein betraf? Warum hatte er mich zu solch feiger Scham gezwungen? Nie wieder, schwor ich, wollte ich jemandem anhängen. Nie wieder verstrickt sein in jemandes Los. Ich wollte eintreten in einen Raum ohne Zeit, wo mich nie wieder jemand bestürzen würde. Sollte das Leben draußen weitergehen. Ich wollte es aussperren, mich vor ihm verkriechen, nicht zulassen, dass es mir passierte. In meinenBlick hatte sich der eine Splitter gebohrt, durch den Kumamotos Sterbegedicht seinen Sinn bekam.

35
    Am nächsten Morgen blieb ich liegen. Nichts Ungewöhnliches. Ich hatte schon öfter die Schule geschwänzt. Es war vorgekommen, dass ich drei, vier Tage lang zu Hause geblieben war, und man hatte mich, weil ich kluge Gründe gehabt hatte, in Ruhe gelassen. Hauptsache, du bringst gute Noten heim. Die verlorenen Stunden hatte ich dank des letzten in mir noch vorhandenen Eifers bald wieder wettgemacht.
    Dieses Mal aber war es anders.
    Eine Woche verstrich. Die Eltern waren besorgt. Eine Woche darauf waren sie missmutig. Eine Woche darauf verzweifelt. Lange verzweifelt. Dann wieder missmutig. Am Ende besorgt. Und so ging es rauf und runter, bis ich nicht länger auseinanderhalten konnte, ob aus Wochen bereits Monate und ob aus Monaten bereits Jahre geworden waren. Ich hatte die Tür zu meinem Zimmer verriegelt. Vergebliches Klopfen, ich antwortete nicht. Je nachdem, ob die Eltern besorgt oder missmutig oder verzweifelt waren, hatte ihr Klopfen einen grauen oder schwarzen oder weißen Klang. Es färbte die Stille, die mich in sich eingesogen hatte und die der Stille eines dunklen Waldes glich. Man geht einen gewundenen Pfad entlang. Schwankende Baumkronen, die Sonne fällt schräg durch die Äste. In ihren Strahlen flirren Spinnweben, zarte Gebilde aus Traumfäden. Man denkt: Wie still es hier ist. Und erkennt schon im nächsten Moment, dass man sich getäuscht hat. Die Stille des Waldes ist eine erfüllte Stille. Sie ist erfüllt von den Stimmen der Vögel, dem Knacken von morschem Holz. Die Käferbrummen. Ein müdes Blatt wirbelt herab. Wie Musik raunt die Stille, wie ein Lied ohne Anfang und Ende. Von diesem Lied stammen alle anderen Lieder ab. In meinem Zimmer erkannte ich: Die Stille hat einen Körper. Sie ist lebendig. Das Tropfen des Wasserhahns aus der Küche. Mutters Plüschpantoffeln. Das Läuten des Telefons. Der Kühlschrank geht auf. Vaters Schlürfen. Durch das zugestopfte Schlüsselloch konnte ich das, was draußen war, atmen hören und war erleichtert, nicht länger meinen eigenen Atem mit hineinmengen zu müssen. Ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Ich spürte, wie meine Haare wuchsen.

36
    Hat er sich wieder gemeldet?
    Wer?
    Kumamoto.
    Nein, ich schüttelte den Kopf: Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, und wenn ich ehrlich bin, ich will es auch gar nicht erfahren.
    Warum nicht?
    Er hat sein Gedicht geschrieben. Verstehen Sie? Nun schreibe ich meins.
    Und wenn er noch lebte …
    â€¦ habe ich trotzdem zwei Jahre in meinem Zimmer verbracht. Die zwei letzten Jahre meiner Jugend – geschenkt! Ihm geschenkt, der, ich kann es mir nicht anders vorstellen, im Grunde seiner Seele tot sein muss.
    Darf ich es lesen? Dein Gedicht?
    Es ist noch nicht fertig.
    Aber da steht es doch.
    Wo?
    Auf dem Rücken deiner Hand.
    So
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