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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama
Autoren: Wladimir Kaminer
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gegen die Wände. Doch viel Spaß schien sie dabei nicht zu haben. An ihren chaotischen Bewegungen konnte man überhaupt nicht nachvollziehen, wohin sie wollte.
    »Ich habe schon immer gesagt, eine fremde Kultur bleibt eine fremde Kultur, egal, wie man sie modernisiert«, stieß Andys Tante hervor.
    Andys Vater gab sich nicht gleich geschlagen. »Alles Quatsch«, sagte er, »sie braucht einfach eine Bremse.«
    »Au ja!«, schrien die Kinder. »Lass uns eine Bremse für die Schildkröte bauen.«
    Zusammen mit den Kindern fing Andys Vater an, das Segelschiff auseinander zu nehmen. Wir anderen verdrückten uns in die Küche.
    »Wenn man nur wüsste, was diesen fremden Kulturen tatsächlich fehlt«, seufzte die Tante. »Aber wir kennen sie gar nicht. Alle unsere Kenntnisse bestehen fast nur aus Urlaubserlebnissen in Tunesien, Algerien oder Marokko. Wir haben einfach keine Ahnung!«
    Meine Frau plädierte des ungeachtet für gezielte militärische Anschläge. Es kam keine Einigkeit zu Stande.
    Als wir nach einer Stunde wieder das Wohnzimmer betraten, um mit unserer Tochter nach Hause zu gehen, war die Schildkröte kaum noch als solche zu erkennen. Es hatte ein ungeheurer Modernisierungsschub stattgefunden. Außer den Rädern hatte sie nun oben auf dem Panzer noch ein Segel und hinten einen kleinen Ventilator zum Steuern sowie eine durchsichtige Plastikhülle um den Kopf, die wahrscheinlich die Rolle eines Airbags spielen sollte. Sie war damit eindeutig übermodernisiert, bewegte sich nicht von der Stelle und guckte böse. Die Schildkröte lehnte demonstrativ alle Werte unserer westlichen Zivilisation ab, die Schnellbewegungsfreiheit ebenso wie alle Sicherheitsmaßnahmen. Wahrscheinlich wollte sie einfach eine ganz normale Schildkröte sein, so eine wie du und ich.

Alle meine Terminatoren
    Täglich lernen meine Kinder Neues über das Leben. Neulich lernten sie zum Beispiel die Uhrzeit. Sie erkannten hinter dem Pendel der Wanduhr, das man so leicht mit einem Pantoffelwurf zum Stoppen bringen kann, die Vergänglichkeit der Zeit, die trotzdem immer weiter läuft und jede Sekunde neu ist, obwohl sie der alten zum Verwechseln ähnlich bleibt. Dieses Wissen präsentierten sie mit einigem Stolz. Alle fünf Minuten rief Nicole zu mir ins Arbeitszimmer: »Frag mich doch, wie spät es ist!«
    Ich war gerade mit meinem kaputten Computer beschäftigt, der ein eigenes Selbstbewusstsein entwickelt hatte und sich seitdem jedes Mal abschaltete, wenn ich etwas schreiben wollte. »Na gut, sag mir, wie spät es ist!«, rief ich aus dem Arbeitszimmer.
    »Kurz vor acht!«, antwortete Nicole bedeutungsvoll, um nach fünf Minuten schon wieder zu fragen:
    »Und jetzt? Weißt du, wie spät es jetzt ist?«
    »Es ist wahrscheinlich fünf Minuten später geworden«, vermutete ich.
    Der Rest des Abends verlief zügig im Fünfminutentakt. Draußen auf der Straße gingen die Kinobesucher zu Terminator 3 -Krieg der Maschinen. Im Film entwickeln die Computer auch ein eigenes Bewusstsein, nur anders als meiner schalten sie sich nicht aus, sondern ein und metzeln die gesamte Menschheit nieder. Mein Computer ist dafür zu faul und lernunfähig. Ich vermisse bei ihm den künstlichen Intellekt. Er könnte, wenn er wollte, von mir lernen und selbst lustige Geschichten aus dem Leben russischer oder meinetwegen koreanischer Emigranten in Deutschland schreiben, und ich würde ihm Kaffee kochen und Zigaretten anzünden. Doch die neuesten Erkenntnisse über künstliche Intelligenz legen nahe: » Intelligence must have a body. «Und deswegen kann sich zum Beispiel Schwarzenegger selbstständig umprogrammieren und mein doofer Schlepptop nicht.
    Sebastian, der sich eigentlich nur für Pokémons und Digimons interessiert, ist nun auch von Schwarzenegger stark beein-
druckt – sein Body und seine Intelligenz lassen vermuten, dass er zu den coolsten Pokémons der Erde zählt. Aber Sebastian darf den Film noch nicht sehen.
    »Das ist ein Film für Kinder ab sechzehn, und du bist erst halb fünf«, sagte Nicole zu ihm. Obwohl sie selbst erst kurz vor sieben ist, weiß das Mädchen über alles Bescheid. An diesen Kindern merke ich, wie schnell die Zeit vergeht: Eben war sie noch halb sechs, morgen muss sie schon zur Schule gehen. Man kann die Zeit nicht stoppen, aber durchaus etwas langsamer fließen lassen, wenn man sie nicht mit den Uhren und Kindern, sondern mit den Terminatoren misst.
    Ich war Viertel nach achtzehn, als der erste in mein Leben trat. Damals hatte man in
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