Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich kenne dich

Ich kenne dich

Titel: Ich kenne dich
Autoren: Jenn Ashworth
Vom Netzwerk:
Interview mit Amanda machen. Exklusiv. Was ihre Mutter wusste. Darauf wette ich mit dir um fünfzig Mäuse.«
    Wir grinsen. Ich glaube, es ist das erste Mal überhaupt, dass ich sie richtig lächeln sehe. Früher wurde ihr Gesicht dadurch breiter – deswegen nannte Chloe sie »Pfannengesicht«. Vielleicht hat sich etwas verändert, als sie herangewachsen ist, oder vielleicht war ich auch nur zu schnell bereit, Chloe von Anfang an zu glauben. Der Wagen ist sauber, und die Sitze sind mit bunten Afghan-Decken bedeckt. Es sieht hier drinnen abgenutzt und liebevoll aus.
    »Kannst du überhaupt noch fahren?«, frage ich. »Wir haben die ganze Nacht getrunken. Du musst erledigt sein.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin schon in einem schlimmeren Zustand Auto gefahren«, entgegnet sie, was nicht gerade beruhigend ist. »Du musst mich lotsen. Ich weiß nicht, wo ich hinmuss. Und wenn ich abbiegen soll, sag nicht links oder rechts – zeig einfach mit dem Finger in die Richtung. Ich kann nämlich rechts von links nicht unterscheiden.«
    Ich schnalle mich an, und sie drückt mir den Schuhkarton in den Schoß und den Fuß aufs Gaspedal. Das Kreischen des Motors ist auf der leeren Straße ohrenbetäubend, aber wir wecken niemanden auf – und niemand reißt die Haustür auf und brüllt heraus.
    »Du musst auf die M6«, sage ich. »Wir fahren nach Morecambe.«
    Emma schaudert nicht und zittert nicht. Ihre Phobien scheinen sie heute Morgen nicht zu stören.
    Die Stelle, wo wir halten, ist nicht weit von der entfernt, an der Donald vielleicht das Boot ins Wasser gelassen hat. Nach einer langen Fahrt durch die Stadt parken wir an der Küste am Nordzipfel von Morecambe an einer verwaisten Promenade mit heruntergelassenen Jalousien. Es gibt Einkaufspassagen, und das Außenschild vor dem ehemaligen Vergnügungspark neigt und hebt sich in dem kräftigen Wind, der durch die Bucht und gegen die zusammengekauerte und gedrängte Geschäftszeile fegt, die den Küstenbogen flankiert. Wir parken auf der gelben Doppellinie, und Emma versichert mir, dass das Parkverbot außerhalb der Geschäftszeiten nicht gilt. Die Straße umklammert die Küste, und der scharfe Umriss der betonierten Promenade hebt sich von dem zerklüfteten, schlammigen Rand der flachen Bucht ab. Dort liegen auch Boote – abblätternde, offenbar aufgegebene Objekte, halb eingesunken im Schlamm oder schräg im Sand liegend, an Ölkanister gekettet, die mit Beton gefüllt sind, oder an Bolzen in der Hochwassermauer. Und da sind Vögel, große weiße Vögel, die auf Pfosten sitzen und umhersegeln und nach Zigarettenstummeln und weggeworfenen Pommesschalen aus Styropor picken.
    Es ist richtig hell, als wir aus dem Wagen steigen und uns in Bewegung setzen, während wir den Schuhkarton mit uns tragen wie eine Kostbarkeit. Hier oben fühlt es sich normaler an. Hier habe ich den Eindruck, dass nicht die ganze Welt vor der Glotze sitzt und Terrys Litanei des Bedauerns live verfolgt: Das betrifft nur unsere Stadt. Ich frage mich, warum das so ist, und am liebsten würde ich Emma fragen, aber bevor ich dazu komme, steigt sie auf das Geländer und beugt sich hinaus über den Schlick.
    Ich habe Angst, und bevor ich darüber nachdenke, stürze ich zu ihr, schlinge von hinten die Arme um ihre Taille und halte dagegen. Sie hat sowas schon mal versucht.
    »Halt!«
    »Ich will mich nicht umbringen«, sagt sie, in ihrer normalen Stimmlage. »Ich will nur einen besseren Blick haben.«
    Ich lasse die Arme einen Moment länger um ihre Taille, drücke das Gesicht in ihren Rücken – schnuppere den muffigen Hundegeruch ihrer Wachsjacke. Es ist ein eher unangenehmer Geruch – aber ich rühre mich nicht, bis sie mich abschüttelt.
    »Lass los«, sagt sie, ohne Verärgerung. »Komm rauf und sieh selbst.«
    Ich klettere neben ihr hoch, und wir lehnen uns gegen das Geländer, während die Kälte der Eisenstangen sich durch meine Jeans frisst und in die Vorderseite meiner Schenkel beißt. Die Wolken hängen tief und haben die Farbe von Bleistiftminen. Man kann nicht besonders weit sehen. Alles ist braun oder grau. Ich denke jetzt viel an Donald – natürlich.
    »Hier hat sich mein Vater ertränkt«, sage ich und rücke näher an Emma heran.
    »Ich erinnere mich«, erwidert sie und fragt mich nicht, ob alles in Ordnung sei.
    »Er war ein bisschen … « Ich unterbreche mich, und mir wird bewusst, dass keiner, den es kümmert, noch zuhört. »Er war ein bisschen verrückt.«
    »Das habe ich auch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher