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Ich kenne dich

Ich kenne dich

Titel: Ich kenne dich
Autoren: Jenn Ashworth
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grober Rollsplitt vom Weg und dem Parkplatz. Industriell hergestellt – er wird in Säcken geliefert, und jemand hatte mehrere Handvoll davon auf das Eis geschleudert. Wahrscheinlich jemand, den wir kannten. Jemand aus unserem Jahrgang zumindest.
    Ich legte die Hände rechts und links an meinen Mund und formte ein Megafon.
    »Kannst du schon was sehen?«
    Carl blickte mich an und schnaubte: »Sind wir deswegen hier? Immer noch?«
    Ich ignorierte ihn und rief wieder. »Er ist hinter dir!«
    Das »diiir« warf kein Echo – dazu standen wir zu sehr im Freien – , aber es klang trotzdem hohl, während es über das Eis flog und anschwoll, als wären wir in einer Pantomime. Chloe hob den Kopf und zeigte mir den Finger, aus keinem besonderen Grund, bevor sie weiterlief, halb staksend, halb gleitend, zur Mitte des Sees.
    »Er ist einfach abgehauen«, sagte Carl.
    »Chloe hat gesagt, wir können herkommen und nachsehen. Um mein Gewissen zu beruhigen. Sie hat es fast geschafft.«
    »Eine verdammte Zeitverschwendung«, sagte Carl, und ich dachte, er wollte auf etwas hinaus – aber ich wollte nicht, dass er derjenige war, der es mir sagte, wollte nicht, dass es etwas war, was er ihr stecken würde: Hör zu – mit einem leichten Nicken in meine Richtung – ich musste sie einweihen, fang jetzt bloß nicht davon an, ja? Nein. So sollte es nicht laufen.
    »Chloe hält das nicht für Zeitverschwendung«, entgegnete ich, und Carl lachte mich wieder aus und wollte vielleicht gerade etwas sagen, als Chloe uns unterbrach.
    »He!«, brüllte sie, und es klang empört. Das lag daran, dass wir aufgehört hatten, sie zu beachten. »Ich bin hier!«, rief sie. »Wehe, ihr lästert über mich!«
    Sie stellte den Fuß auf den Ball, und Carl trat mit dem anderen Fuß vor, sodass er ganz auf dem Eis stand.
    So würde es also laufen. Er würde ihr dorthinaus folgen.
    Ich trat zurück ans Ufer.
    »Komm jetzt wieder runter!«, rief er und versuchte, irgendwie väterlich zu klingen.
    »Er steckt fest«, sagte sie.
    »Kannst du durchsehen?« Ich stellte mir vor, dass der Ball in der Mitte, wo das Wasser klarer war, zu einer Art dicken Glaskugel gefroren war.
    Chloe machte einen Schritt zurück und legte die Hände an die Hüften, holte mit einem Bein aus und trat gegen den Ball. Das Eis riss und machte ein Geräusch wie brechendes Styropor. Der Ball tauchte unter die Oberfläche und hüpfte wieder heraus. Er kullerte über das Eis von ihr weg, und das Bein, mit dem sie draufgetreten hatte, sank in das Loch, das er hinterlassen hatte.
    Ich vermute, sie hat geschrien.
    Carl rannte über das Eis, als würde er über Asphalt sprinten. Ich dachte, er könnte jeden Moment ausrutschen, aber das tat er nicht. Ich steckte die Hände wieder in meine Taschen und suchte nach meinen Fäustlingen.
    Er war rasch bei ihr. Als er sie erreichte, grätschte Chloe unbeholfen auf dem Eis. Sie hatte sich vorgebeugt – das rechte Bein steckte bis zum Oberschenkel in dem schwarzen Wasser, das linke lag flach und angewinkelt hinter ihr auf dem Eis. Ihre Arme waren ausgestreckt, als würde sie nach dem Ball greifen, der gegen einen Ast gerollt war und nur wenige Zentimeter vor ihren zappelnden Fingerspitzen liegen blieb.
    Carl packte ihren linken Fußknöchel. Er kauerte hinter ihr und zerrte an ihrem linken Bein. Er tat ihr damit keinen Gefallen. Durch das Ziehen drückte die Rückseite ihres Oberschenkels gegen die Kante der Öffnung im Eis. Er hätte sich besser hingestellt und sie an den Händen gepackt oder versucht, sie vorwärts rauszuziehen. Ich beobachtete sie und fragte mich wieder, ob man sich an abgebrochenen Eiskanten schneiden konnte. Nein, befand ich schließlich, weil die Körperwärme die Kante bestimmt zum Schmelzen brachte und sie stumpf machte.
    Carl brüllte irgendwas, und Chloe schrie und schlug mit den Armen um sich und kickte mit ihrem freien Bein. Das war keine gute Idee. Sie war so sehr in Panik, dass Carl Mühe hatte, ihren Knöchel festzuhalten. Er stand auf, hob ihr Bein mit hoch und lehnte sich dann zurück. Es musste sich angefühlt haben, als würde sie zusammengefaltet. Carl wankte, als würde er das Gleichgewicht verlieren. Ich dachte schon, er würde fallen. Dann schwankte er wieder, und mir wurde bewusst, dass nicht er sich bewegte, sondern das Stück Eis, auf dem er stand.
    Er ließ ihren Knöchel los und machte einen Schritt zurück, aber das Eis brach wieder – eine Scholle, groß wie ein Tisch, die unter seinem Gewicht nach oben
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