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Ich kenne dich

Ich kenne dich

Titel: Ich kenne dich
Autoren: Jenn Ashworth
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kippte und ihn auf Chloe warf. Ich bewegte die Finger in meinen Taschen und spürte Carls Feuerzeug und die glänzende Seite der Polaroidfotos. Etwas ganz unten verfing sich in meinen Fingerspitzen und unter meinen Nägeln. Etwas Körniges, klein und fest. Es hätten Reste von Donalds Asche von der Besprenkelung hinter dem Krematorium gewesen sein können.
    Chloe ging sofort unter – ich sah ihre Schädeldecke, die wieder zwischen Carls Armen auftauchte. Ihre Haare waren nass und an ihren Kopf geklatscht. Carls Kopf war untergetaucht, vielleicht drückte er von unten gegen das Eis, und sein wild um sich schlagender Arm traf sie mit dem Ellenbogen am Kinn und zwang ihren Kopf wieder nach unten. Während eines Atemzugs schrie sie, und es war, als würden sie gegeneinander kämpfen. Dann waren beide unter Wasser, und es war still, und ich wartete, ob sie wieder auftauchten. Ich zog meine Fäustlinge an und wartete, bis die Wasseroberfläche wieder ruhig war, bevor ich beschloss, nach Hause zu gehen.
    Chloe und Carl blieben nicht lange dort. Das Wasser hatte in der Dunkelheit vielleicht eine dünne Eisschicht über ihren Köpfen gebildet und hielt sie eine Weile versteckt, aber am nächsten Morgen schien die Sonne, und schon kamen sie wieder hoch. Jogger und Spaziergänger mit Hunden erschienen wie aufs Stichwort auf dem Weg, um sie zu entdecken, während die nassen Köpfe im Wasser schaukelten wie Korken. Es war Valentinstag, und das lang ersehnte Tauwetter hatte eingesetzt, und ich wette, es war eine richtige Show, sie zu bergen und in zwei identische Krankenwagen zu verfrachten.
    Ich schlief, als sie gefunden wurden. Ich habe nichts davon mitbekommen.
    Ich habe es mir vorgestellt. Ihre Schädel mit den angeklatschten Haaren. Die blau verfärbte Haut und die Fingernägel. Ich hatte es mir bereits bei Wilson ausgemalt: dass ich die Bilder auf sie übertrug, geschah rasch und unfreiwillig.
    Als Terry am späten Nachmittag darüber in den Nachrichten berichtete, aß ich ein Marmite-Sandwich und las die erste Valentinskarte, die ich jemals bekommen hatte. Anonym, selbstgebastelt und verschickt in einer gefütterten Versandtasche, zusammen mit einem Mix-Tape voller Songs, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich studierte die Handschrift und versuchte mir vor Augen zu führen, wie Shanks’ Gekrakel an der Tafel im Klassenzimmer aussehen würde, wenn er schön schreiben würde, wie auf so einer Karte, mit einem Füllfederhalter.
    Ich wusste, dass sie über Chloe berichten würden, sobald ich Terrys Krawatte sah. Er hüpfte nicht zu seinem Sessel oder rannte und rutschte über den glänzenden Studioboden, wie er das manchmal tat. Aber er war auch schon früher ganz normal an seinen Platz gegangen, ohne dass es schlimmere Neuigkeiten gegeben hatte als eine neue Benzinknappheit oder den Konkurs eines hiesigen Teppichhändlers oder wieder einmal eine schwere Körperverletzung mit einer abgebrochenen Flasche und einer Fahrradkette auf einem Parkplatz vor einer Kneipe. Wie gesagt, es war die Krawatte. Was sonst, wenn nicht ein Todesfall – zwei Todesfälle, obwohl nur der von Chloe wichtig war, weil sie die Blondine war –, hätte Terry dazu bewogen, am Valentinstag eine schwarze Krawatte zu tragen, obwohl die Buchmacher eine Quote von 5:1 für das »Küss mich schnell, zieh mich langsam aus«-Design, mit dem Woolworth seit Ende Januar in Anspielung auf Terry warb, errechnet hatten.
    Barbara war in ihrem Schlafzimmer. Es spielte keine Rolle, wie nah ich vor dem Fernseher saß: Niemand würde es mir verbieten. Das Marmite-Sandwich war meine erste und einzige Mahlzeit an diesem Tag – es war, als hätte ich keine Mutter mehr. Der Weihnachtsbaum war schon lange weg, braun und kahl stand er draußen im Garten und lehnte an der hinteren Mauer, aber im Teppich steckte immer noch die eine oder andere Nadel, und etwas stach in meine Handfläche, auf die ich mich stützte.
    Sie zeigten ihr Schulporträt, ihre Haare zu einem französischen Zopf gebunden und mit winzigen Saphirsteckern in den Ohren. Aufgenommen am Ende des Sommers, als sie noch Farbe hatte und bevor sie so dünn geworden war.
    Ich hörte der Meldung kaum zu. Ich konnte an der Art, wie seine Augen sich bewegten, sehen, dass Terry vom Teleprompter ablas. Er sagte geschliffene, sorgfältige Dinge wie »lokale Kostbarkeit« und »tragische Winterblume« und »die herzzerreißende Trauer ihrer Eltern, die für immer mit schwerem Herzen an den Tag der Liebe und Romantik
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