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Ich habe mich verträumt

Ich habe mich verträumt

Titel: Ich habe mich verträumt
Autoren: Kristan Higgins
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blieb ungebunden und wünschte sehnlich, ich hätte mit meinem erfundenen Freund niemals Schluss gemacht. Es war ein herrlich warmes und befriedigendes Gefühl gewesen, mir vorzustellen, dass solch ein Junge mich mochte.
    Dann kam Jean-Philippe. Jean-Philippe wurde erfunden, um einen nervigen und unglaublich aufdringlichen Jungen auf dem College abzuwehren. Er war Chemie-Student und litt, im Nachhinein betrachtet, vermutlich unter dem Asperger-Syndrom, was ihn gegenüber allen abweisenden Andeutungen meinerseits immun machte. Anstatt ihm geradeheraus zu sagen, dass ich ihn nicht mochte (das erschien mir zu grausam), bat ich meine Zimmerkollegin, mir Nachrichten aufzuschreiben und für alle sichtbar an die Tür zu kleben: „Grace – schon wieder Anruf von J-P, Du sollst in den Semesterferien nach Paris kommen und ihn tout de suite zurückrufen.“
    Ich liebte Jean-Philippe. Ich liebte die Vorstellung, dass irgendein gut gekleideter Franzose auf mich abfuhr. Dass er über die Brücken von Paris schlenderte, trübsinnig in die Seine starrte und sich tief seufzend nach mir verzehrte, während er Schokoladencroissants aß und guten Wein trank. Oh, was war ich in Jean-Philippe verliebt – fast so sehr wie in Rhett Butler, dem ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr treu ergeben war!
    Meine ganzen Zwanziger hindurch und selbst jetzt noch mit dreißig war es für mich so gut wie überlebensnotwendig, einen ausgedachten Freund zu präsentieren. Florence, eine der älteren Damen im Seniorenheim Golden Meadows , bot mir erst vor Kurzem während der Gesellschaftstanzstunde, bei der ich als Lehrerin aushelfe, ihren Neffen an. „Ach, Schätzchen, Sie würden Bertie einfach lieben!“, zwitscherte sie, während ich versuchte, sie zur Rechtsdrehung beim langsamen Walzerzu bringen. „Kann ich Ihnen seine Nummer geben? Er ist Arzt – Podologe. Da gibt es allerdings ein winziges Problem. Die Mädchen heutzutage sind einfach viel zu wählerisch. Zu meiner Zeit war man als unverheiratete Frau über dreißig ja so gut wie tot. Nur weil Bertie einen Männerbusen hat … na und? Seine Mutter war auch gut bestückt, oh ja, die hatte einen Vorbau …“
    Und schon sprang mein erfundener Freund hervor. „Hm, das klingt wirklich ganz reizend, Florence … aber ich habe gerade erst jemanden kennengelernt, und wir …“
    Ich machte das nicht nur vor anderen, ich gebe es zu. Meine erfundenen Freunde benutze ich auch als … nun ja, sagen wir mal, als Bewältigungsstrategie.
    Vor ein paar Wochen, zum Beispiel, fuhr ich über eine dunkle, verlassene Strecke der Route 9 in Connecticut nach Hause, dachte an meinen Exverlobten und seine neue Liebe, als mir plötzlich ein Reifen platzte. Wie es bei Nahtoderfahrungen typisch ist, brausten mir, während ich mit dem Lenkrad kämpfte, um mich nicht zu überschlagen, tausend Gedanken durch den Kopf. Erstens, dass ich zu meiner Beerdigung nichts anzuziehen hätte (ruhig, nur ruhig, du willst dich nicht überschlagen) . Zweitens, dass ich für den Fall eines offenen Sarges hoffte, dass mein Haar zumindest im Tod nicht so kraus sein würde wie zu Lebzeiten (gegenlenken, gegenlenken, das Heck bricht aus) . Des Weiteren, dass meine Schwestern am Boden zerstört und meine Eltern apathisch vor Gram wären, sodass ihre endlosen Seitenhiebe zumindest für diesen Tag verstummen würden (Gas geben, nur ein bisschen, dann kommt der Wagen wieder in die Spur) . Und dass Andrew, verdammt noch eins, von jeder Menge Schuldgefühlen geplagt wäre! Für den Rest seines Lebens würde er sich Vorwürfe machen, dass er mich abserviert hatte (so, jetzt langsam abbremsen, Warnblinker an, wunderbar, wir leben noch) .
    Als das Auto sicher auf dem Seitenstreifen anhielt, saß ich zitternd und zähneklappernd da und spürte mein Herz im Brustkorb rappeln wie einen losen Fensterladen im Sturm.„Liebergottimhimmelseidank“, stoßseufzte ich und tastete nach meinem Handy.
    Natürlich hatte ich wieder mal keinen Empfang. Ich wartete ein paar Minuten und setzte dann resigniert zu dem an, was getan werden musste. Ich stieg in den kalten Märzregen hinaus, untersuchte den geplatzten Reifen, öffnete den Kofferraum und zog Wagenheber und Ersatzreifen hervor. Obwohl ich diese spezielle Arbeit noch nie verrichtet hatte, tüftelte ich aus, wie es gehen musste, während hin und wieder andere Wagen an mir vorbeibrausten und mich mit eisigem Matsch noch mehr durchweichten. Ich quetschte mir die Hand und zog mir eine Blutblase zu, brach
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