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Ich hab dich im Gefühl

Ich hab dich im Gefühl

Titel: Ich hab dich im Gefühl
Autoren: Cecelia Ahern
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auf die seltenen Augenblicke wartet, wenn es nicht mehr anders geht, die Dämme brechen und alles aus ihm herausfließt.
    »Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass es ein Junge wird. Ich weiß nicht, warum, aber ich hab das irgendwie gefühlt. Natürlich hätte ich mich irren können. Ich wollte ihn Sean nennen«, wiederhole ich.
    Dad nickt. »Ja, richtig, ein schöner Name.«
    »Ich hab immer mit ihm geredet. Ihm vorgesungen. Ich frage mich, ob er es gehört hat.« Meine Stimme ist weit weg. Ich habe das Gefühl, dass ich aus einem hohlen Baum rufe, in dem ich mich versteckt habe.
    Wir schweigen, während ich mir eine Zukunft mit dem kleinen Sean vorstelle, eine Zukunft, die es nie geben wird. Wie ich ihm abends vorsinge, wie wir Marshmallows essen und uns beim Baden nass spritzen. Wie wir Fahrrad fahren, Sandburgen bauen und fußballbedingte Wutausbrüche erleben. Aber dann löscht der Zorn über ein verpasstes Leben – nein, schlimmer noch, ein verlorenes Leben – alle meine Träumereien aus.
    »Ich frage mich, ob er es überhaupt gewusst hat.«
    »Ob er was gewusst hat, Liebes?«
    »Was passiert ist. Was er verpassen würde. Hat er gedacht, ich schicke ihn fort? Ich hoffe, er macht mir keine Vorwürfe. Schließlich war ich alles, was er hatte und …« Ich halte inne. Ich habe das Gefühl, ich fange gleich an zu schreien, ich muss das sein lassen. Wenn ich jetzt anfange mit den Tränen, höre ich nie wieder auf.
    »Wo ist er jetzt, Dad? Wie kann man überhaupt sterben, wenn man noch gar nicht geboren ist?«
    »Ach, Liebes.« Er nimmt meine Hand und drückt sie.
    »Sag es mir.«
    Diesmal denkt er darüber nach. Lange und angestrengt. Er tätschelt mir den Kopf, streicht mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht und klemmt sie hinter meine Ohren. Das hat er nicht mehr gemacht, seit ich ein kleines Mädchen war.
    »Ich denke, er ist im Himmel, Liebes. Ach was, das denke ich nicht, das weiß ich. Er ist da oben, zusammen mit deiner Mutter, ja. Er sitzt auf ihrem Schoß, während sie mit Pauline Rommé spielt, sie haushoch besiegt und dabei laut vor sich hin kichert. Sie ist da oben.« Er blickt hoch und wackelt mit dem Zeigefinger. »Pass gut auf Baby Sean auf, Gracie, hörst du? Sie erzählt Sean garantiert alles von dir, Liebes. Wie du noch ein Baby warst, wie du laufen gelernt hast, wie du deinen ersten Zahn gekriegt hast. Von deinem ersten Schultag wird sie ihm erzählen, von deinem letzten Schultag und all den Tagen dazwischen, und dann weiß er alles über dich, und wenn du dann durchs Himmelstor marschierst, als alte Frau – viel älter als ich jetzt –, dann schaut er hoch vom Romméspielen und sagt: ›Ah, da ist sie ja endlich. Höchstpersönlich. Meine Mummy.‹ Er wird dich sofort erkennen.«
    Nur der Kloß in meinem Hals, der so groß ist, dass ich kaum schlucken kann, hindert mich daran, ihm zu danken, wie ich es eigentlich möchte, aber vielleicht sieht er es in meinen Augen, denn er nickt und wendet sich dann wieder dem Fernseher zu, während ich aus dem Fenster starre, hinaus ins Leere.
    »Die haben hier ’ne nette Kapelle, Liebes. Vielleicht solltest du sie gelegentlich mal besuchen, wenn du wieder gesünder bist. Du brauchst nicht mal was zu sagen. Das stört Gott nicht. Du kannst einfach dasitzen und nachdenken. Mir hilft das immer.«
    Aber eine Kapelle ist so ziemlich das Letzte, wo ich jetzt sein möchte.
    »Es ist schön dort«, fährt Dad fort, als hätte er meine Gedanken gelesen. Als er mich ansieht, kann ich fast hören, wie er betet, dass ich aus dem Bett springe und nach dem Rosenkranz greife, den er auf den Nachttisch gelegt hat.
    »Es ist ein Rokokogebäude, weißt du«, sage ich plötzlich, ohne selbst eine Ahnung zu haben, wovon ich rede.
    »Was?« Dad runzelt die Stirn, so dass seine Augen fast unter den Brauen verschwinden, wie zwei Schnecken, die sich in ihr Haus zurückziehen.
    Ich versuche nachzudenken. »Worüber haben wir gerade gesprochen?«
    Jetzt überlegt er angestrengt. »Malteser. Nein!«
    Einen Moment sitzt er schweigend da, dann fängt er an, Antworten auszuspucken wie in einer Quizsendung.
    »Bananen! Nein. Den Himmel! Nein. Die Kapelle! Wir haben über die Kapelle geredet.« Er setzt ein strahlendes Lächeln auf, so freut er sich, dass er sich an das Gespräch erinnern kann, das vor weniger als einer Minute stattgefunden hat. »Und dann hast du gesagt, es ist ein Rock-’n’-Roll-Gebäude. Was hast du damit eigentlich gemeint? Gibt es da Konzerte?«
    »Rokoko,
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