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Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen

Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen

Titel: Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen
Autoren: dtv
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Virtuelle Netzwerke wie Xing oder LinkedIn visualisieren inzwischen, wer der Freund eines Freundes eines Freundes eines Freundes ist und welche Freunde man ansprechen kann, um eine bis dahin unbekannte Person direkt zu erreichen. Mehr noch: Heute kann jeder auf diesem Planeten, der über einen Laptop und einen Internetanschluss verfügt, beispielsweise dem twitternden U S-Präsidenten Barack Obama über den Mikroblogging-Dienst eine direkte Nachricht schicken (die Chance, dass er darauf antwortet, bleibt freilich weiterhin gering). Via Facebook bleiben wir mit alten Freunden ebenso in Kontakt, wie wir in nur wenigen Klicks neue finden können. Man muss sich das mal vorstellen: Wäre Facebook heute ein eigener Staat, so läge er   – gemessen an der Einwohnerzahl   – auf Platz drei der größten Länder der Welt, hinter China und Indien. Über 600   Millionen Mitglieder hat das Netzwerk inzwischen   – und selbst diese Zahl dürfte bereits veraltet sein, wenn dieses Buch erscheint, denn jeden Monat kommen rund 200   000 neue Mitglieder dazu.
    Die Welt ist klein geworden, kleiner als sie Milgram damals skizzierte. Jedoch   – und das ist die eigentliche Tragik   – nichtfür alle Menschen auf diesem Planeten. Die entscheidende Einschränkung liegt heute weniger in der Größe des persönlichen Netzwerks   – vielmehr liegt sie im Zugang zu den modernen Netzwerken selbst. Ohne Internet kein Anschluss. Und während andere miteinander chatten, skypen, twittern, muss der mexikanische Offline-Maisbauer weiterhin hoffen, dass jemand seinen Brief weiterleitet. Vorausgesetzt, der weiß mit der Schneckenpost überhaupt etwas anzufangen.

D ER PROTEUS-EFFEKT
    Wieso virtuelle Avatare unser Verhalten verändern

    Der »Alte vom Meer« war nicht nur äußerst weise und gerissen, sondern zudem auch ziemlich maulfaul. Lieber hütete der griechische Gott Proteus seine Robben auf den Inseln Karpathos und Pharos, als den Menschen mit ein paar überirdischen Prophetien aus der profanen Patsche zu helfen. Und falls diese doch einmal versuchten, ihm ein paar Weissagungen zu entlocken, entzog er sich ihnen, indem er sich in allerlei Zeugs verwandelte. Mal schlüpfte er in die Gestalt von Löwen, mal waren es Schlangen, Leoparden, Eber oder gar Bäume und Elemente wie Wasser oder Feuer. Der mythische Meeresgreis gilt seitdem als Meister der Verwandlung, der jede beliebige Form annehmen konnte   – so wie die Menschen heute im Internet.
     
    Avatare, wie die Alter Egos der Generation @ heißen, finden sich überall im Web: als Profilbilder in sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook, als Phantasiewesen in Online-Spielenwie »World of Warcraft« oder gar als zweites Ich in virtuellen Parallelwelten wie dem Second Life. Eher klein geratene Brillenschleichen verwandeln sich dort zu muskelbepackten Hünen in schillernden Rüstungen, Mauerblümchen avancieren zu vollbusigen Amazonen mit wallenden Blondmähnen, die keine Brigitte-Diät je so hingehungert bekommen könnte. Die digitale Metamorphose wird zur Bühne für multiple Persönlichkeiten und zum Seelenspiegel für das menschlichste aller Gefühle: jemand anderer, zumindest aber mehr zu sein, als man wirklich ist.
    »Proteische Persönlichkeiten« nannte der amerikanische Psychologe Robert J.   Lifton im Jahr 1993 erstmals solche Verhaltensweisen, woraus der U S-Soziologe Jeremy Rifkin sieben Jahre später einen populären Begriff für den vernetzten Menschen des 21.   Jahrhunderts machte. Im positiven Sinne beschreibt der Effekt den modernen Menschen als extrem anpassungsfähig und flexibel. Man könnte aber auch sagen, dass der Typ kaum noch über einen klar umrissenen Charakter verfügt, sondern ständig in diverse Rollen schlüpft und sich aufführt, als sei er Legion.
    Man kann das moralisch bewerten   – oder einfach beobachten, was mit Menschen passiert, die sich so verhalten. Und tatsächlich: Wissenschaftler haben erst einmal nur Letzteres getan und dabei prompt den Proteus-Effekt entdeckt. Demnach können wir im Netz spielerisch beeinflussen, wie uns andere sehen und damit, wie wir auf sie wirken   – umgekehrt wirken die künstlichen Alter Egos aber auch auf uns, auf unsere Psyche und unser Verhalten.
    Nick Yee, ein pfiffiger Hongkong-Chinese mit raffiniertem Grinsen und eigener Webseite, fand zum Beispiel im Rahmen seiner Dissertation an der Stanford-Universität heraus, dass Nutzer eines besonders attraktiven Avatars irgendwann begannen, im Netz ihr
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