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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Autoren: S. J. Watson
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haben Sie Erinnerungsblitze. Anscheinend wissen Sie an manchen Tagen mehr als an anderen.«
    »Ich begreife das nicht«, sage ich. »Ich erinnere mich nicht daran, Ihnen je begegnet zu sein, oder was gestern passiert ist oder vorgestern oder auch letztes Jahr. Dagegen kann ich mich an manche Dinge erinnern, die Jahre her sind. Meine Kindheit. Meine Mutter. Ich erinnere mich daran, dass ich studiert habe, so halbwegs. Mir ist schleierhaft, wie diese Erinnerungen überlebt haben können, wenn doch alles andere wie weggewischt ist.«
    Während ich rede, nickt er die ganze Zeit. Ich bin sicher, dass er das alles nicht zum ersten Mal hört. Vielleicht sage ich jede Woche dasselbe. Vielleicht führen wir immer das gleiche Gespräch.
    »Das Gedächtnis ist eine komplizierte Angelegenheit«, sagt er. »Menschen haben ein Kurzzeitgedächtnis, das Fakten und Informationen etwa eine Minute lang speichern kann, aber auch ein Langzeitgedächtnis. Darin können wir gewaltige Mengen Informationen speichern, und das anscheinend unbegrenzt lange. Wie wir heute wissen, werden diese beiden Funktionen offenbar von verschiedenen Teilen des Gehirns gesteuert, zwischen denen neuronale Verbindungen bestehen. Ein Teil des Gehirns scheint außerdem dafür zuständig zu sein, kurzzeitige, vorübergehende Erinnerungen im Langzeitgedächtnis zu encodieren, so dass sie sehr viel später wieder abgerufen werden können.«
    Er spricht locker, schnell, als wäre er jetzt auf sicherem Boden. Ich muss auch mal so gewesen sein, vermute ich; voller Selbstvertrauen.
    »Es gibt zwei Hauptformen von Amnesie«, sagt er. »Die häufigste Form ist die, dass sich die betroffene Person nicht an vergangene Ereignisse erinnern kann, wobei die jüngsten Ereignisse am stärksten betroffen sind. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand hat einen Motorradunfall, dann erinnert er sich nicht an den Unfall oder die Tage oder Wochen davor, aber er kann sich durchaus an alles erinnern, was beispielsweise bis zu sechs Monate vor dem Unfall passiert ist.«
    Ich nicke. »Und die andere Form?«
    »Die ist seltener«, sagt er. »In manchen Fällen ist es unmöglich, Erinnerungen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis zu übertragen. Menschen mit dieser Störung leben im Augenblick, können sich nur an die unmittelbare Vergangenheit erinnern, und das nur für kurze Zeit.«
    Er verstummt, als warte er darauf, dass ich etwas sage. Es ist, als hätte jeder von uns beiden seinen Text, als hätten wir dieses Gespräch schon oft geprobt.
    »Und ich habe beides?«, frage ich. »Verlust der Erinnerungen, die ich hatte, plus die Unfähigkeit, neue zu bilden?«
    Er räuspert sich. »Leider ja. Es ist nicht häufig, aber es kommt vor. Das Ungewöhnliche an Ihrem Fall ist allerdings das Muster Ihrer Amnesie. Die meiste Zeit haben Sie keinerlei zusammenhängende Erinnerung an irgendein Ereignis nach Ihrer frühen Kindheit, aber Sie scheinen neue Erinnerungen auf eine Weise zu verarbeiten, die mir völlig unbekannt ist. Wenn ich jetzt aus dem Raum gehen und zwei Minuten später zurückkommen würde, könnten sich die meisten Menschen mit anterograder Amnesie nicht erinnern, mich je gesehen zu haben, und schon gar nicht heute. Aber Sie scheinen sich an ganze Zeitabschnitte zu erinnern – bis zu vierundzwanzig Stunden –, die Sie dann wieder verlieren. Das ist untypisch. Offen gestanden, nach allem, was wir über die Funktionsweise des Gedächtnisses zu wissen meinen, ergibt es überhaupt keinen Sinn. Ich vermute, dass Sie durchaus imstande sind, Dinge vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu übertragen. Ich verstehe bloß nicht, warum Sie sie nicht speichern können.«
    Mein Leben mag ja zersprungen sein, aber wenigstens ist es in so große Stücke zersprungen, dass ich einen Schein von Unabhängigkeit wahren kann. Vermutlich kann ich mich glücklich schätzen.
    »Was hat das verursacht?«, frage ich.
    Er sagt nichts. Der Raum wird ruhig. Die Luft fühlt sich leblos an und stickig. Als er antwortet, scheinen seine Worte von den Wänden widerzuhallen. »Eine Schädigung des Gedächtnisses, sowohl des Langzeit- als auch des Kurzzeitgedächtnisses, kann viele Ursachen haben«, sagt er. »Krankheit, Unfall, Drogenmissbrauch. Die genaue Art der Schädigung ist offenbar unterschiedlich, je nachdem, welcher Teil des Gehirns betroffen ist.«
    »Ja«, sage ich. »Aber was hat meine verursacht?«
    Er sieht mich einen Moment lang an. »Was hat Ben Ihnen erzählt?«
    Ich denke an unser Gespräch
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